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Untertürkheimer Heimatbuch 1935
Von Johannes Keinath

Der Tod

So gingen die Jahre dahin in Arbeit und in der Sorge ums tägliche Brot. Kinder wurden den Eheleuten geboren, aber noch war die Kindersterblichkeit ungemein groß, Wiege und Grab standen nahe beieinander. Kamen die Kinder ins schulpflichtige AIter, so wurden sie eine wertvolle Hilfe. Nun aber waren sie herangewachsen, hatten schon einen eigenen Hausstand gegründet. Inzwischen hatte die Arbeit den Körper der Alten gebeugt; wetterhart und zerfurcht wurden die Gesichter. Aber so sehr manchmal auch die Arbeit gedrängt hatte, ganz aufgegangen war man nicht in ihr. Man hatte sich dazwischenhinein immer wieder auch einen Blick gegönnt in das Tal, wo der Neckar glänzte und gleitzte wie flüssiges Silber, man sah den Rauchfahnen der Züge nach, sah, wie am Wangener Berg die Pfirsichbäume als erste die rosaroten Blüten aufsteckten, wie das „Grün" oder der „Gairenwald" ein einziges Blütenmeer wurden. Man fühlte sich als seines Herrgotts unmittelbarster Kostgänger und als der freie Mann, der keinen irdischen Herrn über sich hat und auf eigenem Grund und Boden steht. In solchen Stunden beneidete man die Stadtleute nicht mehr, wenn sie sich's auch in manchen Stücken bequemer machen konnten, Und die Stadtleute sind sehr auf dem Holzweg, wenn sie meinen, der Mann auf dem Land habe keinen Sinn für die Natur. Wohl ist für ihn Alltag, was für den Städter Sonntag ist, aber wenn er auch nicht viel darüber redet, seine Liebe zur Natur ist männlicher als die des durchschnittlichen Städters. In Sturm und Regen, in Hagelschauer und in Sonnenglut hat er sie kennengelernt. Er weiß auch ihre Schönheit im kleinen zu schätzen, hat seine Freude an den „Pfingstnägele" auf der Weinbergmauer, an den „Sternen", den Narzissen, denen er gern ein bescheidenes Plätzchen im Weinberg einräumt. Am meisten aber erfreut ihn der würzige Duft des blühenden Weins, dem kein anderer Duft gleichkommt und der ihm Verheißung ist auf einen reichen Herbstsegen.

Und wie er im Lauf der Jahre sich angepaßt hat an den großen Rhythmus der Natur, so ist ihm allmählich auch das Wissen geworden um die Notwendigkeit in allem Werden und Ver-geben. Auch ihm wird es etwas Selbstverständliches, daß er eines Tages wird gehen müssen. Erdverwachsen, wie er im Lauf der Jahre geworden ist, ist ihm das Wort von dem mütterlichen Schoß der Erde und das andere: „Zur Erde sollst du werden, von der du genommen bist" keine bloße Redensart mehr.

Und nun geht ein schöner Frühlingstag eben zur Küste. Er hat den alten Weingärtner noch einmal hinausgelockt, aber die Arbeit ist ihm sauer geworden. Er spürt es, und eine Ahnung sagt ihm: Nicht mehr lange wird's dauern, und der „Leichtsäger" (Leichenansager) wird unten im Flecken von Haustür zu Haustür gehen und sein Sprüchlein sagen, tu dem uralter Väterbrauch seinen Niederschlag gefunden hat: „Wenn äber so guet sei will, no sollet er (Ihr) au em ...'s Glôet (Geleit) gäe uf de Kirchhof." „Er send en dr Klag*)" (oder: „Er sollet au ens Haus komme**)"). Und dann werden ein paar freundliche Nachbarn an seiner Bahre neben den brennenden Kerzen die Nachtwache halten, und am nächsten oder übernächsten Tag werden sie ihn hinaustragen, und dreimal, am Bahnhof, am „Adler", vor dem Friedhof werden sie den Sarg abstellen, und die Kinder werden jeweils einen Gesangbuchvers singen, und nach der Beerdigung werden die Verwandten zu einem Leichentrunk zusammenkommen, und der scharfe Geruch der Kränze wird noch über der Stube liegen, und sie werden ihm zur Ehre sagen, er sei ein braver Mann gewesen. Und schließlich werden sie in angeregter Unterhaltung nach Hause geben und von Dingen reden, die gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und das dünkt ihm ganz gut so. Während er an diese Dinge denkt, geht ein wissendes, versonnenes Lächeln über sein Gesicht, er hält die Hand vor die Augen und sieht hinüber, wo im Sattel zwischen dem Wangener Berg und der Gänsheide eben die Sonne als ein glutroter Ball im Abendnebel versinkt. Nun ist auch sein Tagewerk getan, er bindet den einen Zipfel seines Schurzes hoch, schultert seine Feldhaue und geht in sich gekehrt den Weg hinunter zum Dorf.

*)   Zur "Klage" gehört die weitere Verwandschaft.
**) Ins Haus geladen werden nur die nächsten Verwandten.