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Untertürkheimer Heimatbuch 1935
Von Johannes Keinath

Die Heimatberge und der Heimatfluß

Die Landschaft hat teilweise ein anderes Gesicht als heutzutage. Die massigen Höhen freilich sind über den Wechsel der Zeiten erhaben. Sie zeigen Jahr für Jahr vom Ende des Herbstes bis weit ins Frühjahr hinein das satte Rotbraun des Keuperberglands, bis dann im Mai ein silbergrauer Schimmer die Hänge überfliegt. Da hat der Weingärtner aber schon "gepfählt", und die Berge tragen nun eine Zeitlang einen merkwürdigen Stoppelbart. Bald aber wuchert das Blattwerk gewaltig und überzieht die Pfähle mit dichten Ranken. Je saftiger das Grün ist, umso mehr freut es den Weingärtner, denn umso gesünder sind seine Reben. An den Hängen aber bringen die Weinbergmauern, die das Werk vieler Geschlechter sind und bald in gerader Flucht dahinziehen, bald bastionsartig vorkragen, einen trutzigen, selbstherrlichen Zug in das sonst so liebliche Bild.

Während sich also hier Vergangenheit und Gegenwart kaum unterscheiden, sieht's unten im Talgrund wesentlich anders aus als heutzutage. Vor allem: der Neckar ist noch nicht kanalisiert. Er spielte im Leben der Dorfbewohner eine ungleich größere Rolle als heutzutage. Der für gewöhnlich gelassen dahinfloß, wie ein junger Knabe in der Sonne sich dehnte und räkelte und unterhalb der Brücke sich im luftigen Spiel der Wellen erging, der konnte jählings zu einem ungestümen Riesen werden, der alles zerschlug, was sich ihm am Menschenwerk in den Weg stelle. Zwar die Kinder im Usserdorf freuen sich, wenn im Gögelbach oder am Durchlaß unterhalb der Schlittenbahn das Wasser immer höher und höher steigt, und wie das Atemholen eines Riesen erscheint es ihnen, wenn die Wellen zwischen den Steinmauern des Durchlasses in rascher Folge klatschend vorpreschen und plätschernd wieder verebben. Sieht man aber über die Brücke hinunter, so will es einem fast grausen ob der unbändigen Kraft, mit der der braune Strom unter einem dahinbraust. Und wer gar in der Kindheit einen nächtlichen Eisgang erlebte, wenn die Eisschemel donnernd an den scharfgekanteten Vorsprüngen der Brückenpfeiler auseinanderbarsten, um in wildem Wirbel sich zwischen den Pfeilern durchzudrängen, wird dieses gewaltigste aller Naturschauspiele nie vergessen können, kein Wunder, daß die Mutter das Kind schrecken konnte durch die Drohung mit dem "Hôkemâ", der heimtückisch mit seinem Haken einen in den Fluß hineinzieht, wenn man allzu unvorsichtig und vertraulich am Ufer spielt. Und daß das keine leere Redensart war, das erfuhr man fast Sommer für Sommer, wenn die Kunde das Dorf durcheilte: "Im Neckar ist einer ertrunken", und ein paar Männer vom Nachen aus den Flußgrund mit langen Stangen absuchten, bis sie dem Neckar seine Beute wieder entrissen hatten. Mit einem Tuche verhüllt wurde der leblose Körper auf einer Bahre, begleitet von der Dorfjugend, die angesichts der Majestät des Todes das Schweigen überkam, hinaufgeschafft in das Kelterstübchen in der Zehntscheuer, wo er lag, bis der Arzt seines Amtes gewaltet hatte. Auch das war ein eindrucksvolles Erleben für das ganze Dorf im sonstigen Gleichmaß der Lage.

Und immer noch erzählten in jenen Jahren die Älteren einander von der Nacht auf den 1. August 1851, wo ein gewaltiges brachen sie aus dem Schlafe gerissen hatte: das plötzlich auftretende Hochwasser hatte die Holzbrücke mitgerissen, mit einem donnernden Knall war sie zusammengestürzt. Das ganze Neckartal war überschwemmt, bis zum Wangener Damm hinüber wogte das Wasser, von den "Hetzen" herunter gesehen glich das Tal einem großen See, aus dem die Kronen der Obstbäume als dunkle Flecke herausragten.

Und jedes Jahr, wenn der Neckar zufror, lebte man in Sorge wegen des Eisgangs. Denn wenn am Berger Wehr das Eis aufgehalten wurde, entstand eine Mauer, die Meter um Meter wuchs und hinter der immer höher das Wasser sich staute. Über die ganze Talaue wurden die Eisschemel getragen, sie scheuerten die Rinde der Obstbäume ab, und auf Jahre hinaus war der Ertrag vernichtet.

So war der Neckar ein Tyrann, der seine Untertürkheimer immer wieder in Atem hielt, aber trotzdem hatten sie alle eine heimliche Liebe zu ihm. Und wer in der Fremde der Heimat gedenkt, für den gehört zu ihrem Bilde auch der Fluß und die leise Melodie, die das Spiel seiner Wellen begleitet.

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