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Untertürkheimer Heimatbuch 1935
Von Johannes Keinath

Rund um den Karz

Voll zu ihrem Recht kam die Stube erst am Abend, und zwar am Winterabend, wenn nach dem Nachtessen und Spülen die Frauen zur Spinnstube, zum Karz, zusammenkamen. Junge und Alte, auch die Mägde nahmen daran teil. Die Mädchen, die eine "Bekanntschaft" entsprechenden Alters besaßen und offen mit ihr "gingen", hatten die Kunkel mit Rekrutenbändern umwickelt. Fast jede brachte ihr Spinnrädchen mit. Schon den Flachs und den Hanf hatte man gemeinsam, vielfach in Kirchheim, gekauft. Wer nicht spinnen wollte, stopfte wenigstens Strümpfe oder nähte Straminschuhe. Das Häkeln kam erst später auf. So saß man zu sechs bis acht um den Tisch mit seiner altertümlichen Ampel herum, die ein sehr kärgliches Licht, deren Brennöl aber einen umso durchdringenderen Duft verbreitete. Immer wieder mußte mit der Pinzette, die an der Ampel hing, der Docht nachgezogen und der "Butzen" entfernt werden.

Wollte man es etwas vornehmer geben, so legte man zusammen und kaufte eine Unschlittkerze. Selten kommt eine Geselligkeit der Gegenwart dem Zauber dieser Spinnstuben gleich. Seltsam, wie die Menschen hier sich nahe kamen und für eine Reihe von Winterabenden in Arbeit und Scherz eine wirkliche lebendige Gemeinschaft bildeten. Wenn der Sturm an den Läden rüttelte und der Regen an die Scheiben klatschte, fühlte man so recht die Behaglichkeit des schützenden Raumes. Und man wußte noch um die Schauer der Nacht, die Empfänglichkeit wecken für das Glück menschlicher Gemeinschaft. Mußte man doch die kleinen Windlichter mitnehmen, wenn man in dunkler Winternacht von einem Dorfteil zum andern geben wollte in einer Zeit, da in Untertürkheim nur an vier Stellen armselige Laternen mit trüben Ölfunzeln brannten.

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So geisterte denn auch allerhand Aberglaube durch den Raum, wenn die Natur für die entsprechende Stimmung sorgte, und solange die Frauen noch unter sich waren. Da wußte man von dem weißen Schwein zu erzählen, das unten an den Wallenwiesen, Cannstatt zu, gesehen wurde. Wie an den Kreuzwegen überhaupt, so war es besonders an der Wegkreuzung auf dem Hedelfinger Weg gar nicht geheuer; am Melactürmchen auf dem Ailenberg bei Obertürkheim habe man wieder die wilde Jagd gesehen und das Blasen der Jäger gehört, und einer, über den sie weggezogen seien, habe sich nicht auf den Boden geworfen, deshalb habe er vor ein paar Tagen sterben müssen. Wenn man die wilde Jagd sehe oder höre, dann sei ein Krieg in Sicht. Am Weg von Wangen nach Untertürkheim halten sich drei Geister auf. Es sind drei Bürger, die einst Marksteine versetzten und deshalb jetzt "gehen" müssen. Wer gerade des Wegs kommt, den verfolgen sie, unter Umständen bis in seine Wohnung, und prügeln ihn mit langen Stangen, offenbar Meßstangen, durch, wenn sie ihn erwischen.

Auch gegen Krankheiten, unter denen man besonders die Kinderseuchen fürchtet, weiß man allerhand Mittel. Unten in der Mühlstraße wohnt das Bäbele. Sie heilt mit Salben und Sympathie. Sie genießt einen gewissen Ruf in der Umgegend; sogar mit Chaisen kommen die Ratsuchenden angefahren. Schwer geplagt sind die Kinder durch den "Hôrwurm", einen Rufenausschlag. Ihn heilt Bäbele durch Anblasen und einen Spruch, den sie dabei sagt.

Immer noch treiben die Hexen ihr Unwesen. Freitags ziehen sie ins Gäu. Wer sein Haus vor ihnen schützen will, stellt den Besen umgekehrt vor die Haustür. Wenn man aber doch Unglück im Stall hat und eine Kuh verhext ist, nimmt man das Horn eines Rinds, das noch nicht gekalbt hat, und nagelt es nachts um zwölf Uhr an die Stalltür, trifft der Nagel genau mitten durch, so ist die Hexe am andern Morgen tot, trifft er etwas seitwärts, so ist sie am andern Tag wenigstens krank. Bei leichteren Krankheiten des Viehs genügt es unter Umständen auch, ein zusammengefaltetes Stück Rapier, das man von einem Hexenbanner sich hat geben lassen, an die Stalltür zu nageln. Wen der Fürwitz treibt, mag es öffnen, er findet merkwürdige, unleserliche Zeichen, aber dann tut der Bann selbstverständlich keine Wirkung mehr. Wenn man eine neugekaufte Kuh oder ein Rind vor Seuchen oder Krankheiten bewahren will, legt die Hausfrau die Schürze, die sie trägt, über die Stallschwelle und gibt dem Vieh zum Einstand ein dick mit Schmalz bestrichenes Brot zu fressen. Schade, daß man die Hexen im allgemeinen nicht sehen kann, nur dem, der an Weihnachten geboren ist, ist diese Gabe verliehen. Untertürkheim besitzt damals einen besonders erfolgreichen Hexenbanner, den man sogar ins Ausland holt.

Nicht allzulang mag man im Karz bei Hexen und Geistern verweilen, so angenehm das Gruseln ist, das man in der Geborgenheit der Stube beim hinhören der Erzählungen empfindet. Man verscheucht die bösen Geister, indem man eines der alten Volkslieder anstimmt. "Wie's die Blümlein draußen zittern", "Im schönsten Wiesengrunde", "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" werden in langgezogenen Weisen gesungen, daneben auch ein paar lustig neckische, wie ja in dem weitgespannten Gefühlsleben des Schwaben alle Stimmungen nebeneinander Platz haben. Alle erschüttert immer wieder aufs neue die schauerliche Ballade: "Weint mit mir, ihr nächtlich stillen Haine, zürnet nicht, ihr morschen Totenbeine, Wenn ich euch in eurer Ruhe Stör'-" . Es ist ein ländliches Gegenstück zu Bürgers "Lenore fuhr ums Morgenrot empor aus schweren Träumen ..."

Manchmal sind die jungen Mädchen in Begleitung ihrer "Bekanntschaften" erschienen oder hat sich ein junger Bursche teils verlegen, teils frischweg unter irgend einem Vorwand eingefunden und sich gerne zum Bleiben einladen lassen; man hat die Gelegenheit benützt, da der Schwabe nur schwer die Gefühle in Worte kleiden kann, durch mehr oder weniger zarte Andeutung seiner Zuneigung Ausdruck zu geben. Dazu eignet sich besonders gut das Pfänderspiel, das sich deshalb beim Karz auch großer Beliebtheit erfreut. Auch ein bescheidenes Tänzchen kann, wenn die Stimmung entsprechend gehoben ist, gewagt werden. Zu diesem Zweck begibt sich die Karzgesellschaft in die Scheuer, wo einer mit der "Mundharfe" aufspielt.

Inzwischen haben sich auch die älteren Männer eingefunden, ihre "Weibsleut" heimzuholen. Auch sie lassen sich gerne noch eine Zeitlang hinhalten. Die Sprache wird jetzt, wo die Männer den Ton angeben, kräftiger und derber, von einer unmittelbaren Bildhaftigkeit, um die heutige Dichter meist vergeblich ringen. Schnurren und Streiche werden erzählt, Witze gerissen. Man kennt sie vielfach schon, aber man kann sie nicht oft genug hören. Mit jedem Mal werden, wenn der Erzähler bei Laune ist, die Farben kräftiger, die Gestalten reicher an Einzelzügen, die Geschichten abenteuerlicher. Man erzählt vom Zetterskarle, der einst vom Schornstein der Gipsfabrik herab seinen Mitbürgern ein kräftiges "Prost Nuijôhr!" zurief, von dem Schwiegervater, der am Lotterseil eine kleine Himmelfahrt angetreten hat, als eine schwere Garbe vom Garbenboden in die Tiefe gelassen wurde und er allzulang das Seil festhielt, bis er schließlich oben am Dachsparren landete, von dem Zwiegespräch, das sich zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn in dieser Lage entwickelte. Auch die Schule und der Schulmeister kommen an die Reihe. Hat da nicht der Karle neulich den Oberlehrer in schwere Verlegenheit gebracht? Sein Vater war Metzger, und bei ihm, dem Karle, war in der Schule "Hosespannes" an der Tagesordnung. Im Einverständnis mit dem Vater, der dem Oberlehrer sowieso nicht grün war, band er sich, ehe er in die Schule ging, eine Blutwurst an dem betreffenden Körperteil fest. Die Exekution setzte auch prompt in gewohnt kräftiger Weise ein, aber nach den ersten Streichen floß unten das Blut zur Hose heraus. Furchtbares Wehgeschrei erfolgte. Der Oberlehrer war tief bestürzt. Eine Woche Bettruhe, ein Entschuldigungsbesuch beim Metzgermeister, bekräftigt durch verschiedene Leckerbissen, war das für den einen Teil erfreuliche, für den andern Teil bittere Ende. Wenn man schon einmal bei der Schule war, dann wurde der Stoff unerschöpflich. Der starke Druck, unter den damals die Jugend in den überfüllten Klassen gesetzt werden mußte, führte zu ebenso kräftiger Gegenwehr bei den Schülern. Man benützte jede Gelegenheit, einen Zug zu machen. So war z. B. letzten November wie alle Jahre dem Oberlehrer eine "Märtesgas" überreicht worden. Am andern Tag schnatterten im Schulhof die zum Sonntagsbraten bestimmten Gänse. plötzlich, in einem Augenblick, da unten der Lehrer seinen Schülern den Rücken gekehrt hatte, flogen durch die Luft, an Schnüren befestigt, einige Welschkörner. Innen im Klassenzimmer gespannteste Aufmerksamkeit. Da erhob sich im Hof ein erbärmliches Gequieke. Verständnisvolles Augenzwinkern bei den Wissenden. Der Oberlehrer eilt ans Fenster, besorgt um das Schicksal der heiligen Vögel. Er sieht, daß die Schnüre am Fensterrahmen befestigt sind, und durchschaut sofort die Zusammenhänge. Sein Blick fliegt über die Klasse. Dort haben sie ein paar Köpfe tiefer als sonst über die Bücher geduckt. Das scharfe Auge des Gefürchteten hat die Schuldigen erkannt. Händereibend, aber tapfer die Schmerzen verbeißend sieht man sie bald darauf die Gerichtstätte vor dem Katheder verlassen. Solche und ähnliche Geschichten machen die Runde durch die Kärze. Wenn die Stimmung dann den Höhepunkt erreicht hat, wird gar das Untertürkheimer "Bohnenlied" gesungen. Es ist ein Spottlied auf eine Einzahl ortsbekannter Persönlichkeiten.

Lustig geht's im Karz zu auch wenn, wie das gewöhnlich der Fall ist, gar keine Aufwartung gemacht wird. Erst wenn die Karzzeit zu Ende geht, der Karz "geschieden" wird, bringt jedes der Beteiligten zum letzten Abend etwas mit: Eier, Äpfel, Mehl, Butter, Milch. Dann gibt es Kaffee und Butterkuchen, manchmal auch Wein, mit dem man aber im Weingärtnerort im allgemeinen recht zurückhält. Mit Mariä Verkündigung ist die Karzzeit vorbei, denn "Mariä Verkündigung wirft dem Weih die dunkel um". Schon hat die harte Arbeit im Feld draußen begonnen.