[pag163] Weil der Landtag sich nicht von der Neutralität
abbringen ließ, wurde er aufgelöst und unter starkem Regierungsdruck
Frühjahr 1800 ein neuer gewählt; auch bei der Wahl des Ausschusses
griff der Herzog ein. Als aber Moreau den Rhein überschritt, floh
der Herzog nach Erlangen und nahm die Landschaftskasse mit. Das Hauptquartier
der Franzosen war in Cannstatt. Die französischen Soldaten waren
wohl jetzt besser diszipliniert. Sie durften nicht mehr mit der Pfeife
im Mund ins Zimmer des Vorgesetzten treten und die Offiziere selbst
wählen. Aber das Eigentum der Landesbewohner sahen sie immer noch
als den Preis ihrer Tapferkeit an, und vor allem wollten sie fein leben. „Der
französische Soldat liebt nicht die vollen Schüsseln wie
der Österreicher und der Russe; aber er besteht durchaus auf Wein,
Fleisch und besonders Geflügel." So ist es nicht zu verwundern,
wenn in der Gemeindepflegerechnung von 1800/01 die Gesamtkriegskosten
mit 18 805 Gulden aufgeführt werden und die Quartierkosten mit
11322 Gulden. Moreau verlangte jeden Monat 600 000 Franken. Der Hohentwiel
wurde den Franzosen übergeben gegen das ehrenwörtliche Versprechen,
daß die Festung unversehrt nach Friedensschluß zurückgegeben
werden solle. Auf Befehl Napoleons wurde sie aber in einen Trümmerhaufen
verwandelt. Februar 1801 wurde der Friede von Luneville geschlossen,
aber erst im Mai zogen die Franzosen ab. Der Herzog kehrte nach Ludwigsburg
zurück und ordnete für Pfingstmontag, den 25. Mai, ein Dank-
und Friedensfest an mit dem Psalmtext: „Der Herr bauet Jerusalem
und bringt zusammen die Verjagten in Israel." Trotz des Friedens waren
aber die Lasten groß und das Leben teuer. Der Eimer Wein kostete
45 Gulden, der Scheffel Dinkel 7, Haber 6 Gulden, das Pfund Kalbfleisch
8, Ochsenfleisch 10, Schweinefleisch 12 Kreuzer, und dabei bekamen
die Ortsarmen 9-12 Kreuzer in der Woche. Gleichwohl wurde auf herzoglichen
Befehl eine Kollekte für das Schulbauwesen in Fellbach eingesammelt,
und die Untertürkheimer steuerten bei in der Hoffnung, daß die
Nachbargemeinde sich einmal erkenntlich zeigen werde, wenn für
den hiesigen Schulbau, der immer noch nicht unternommen war, geopfert
werde.
9. November 1799 war Napoleon Herr von Frankreich
geworden, und die deutschen Fürsten entblödeten sich nicht,
sich um seine Gunst zu bemühen, um ihre Entschädigungsansprüche
durchzusetzen. Gemäß dem Friedensschluß von Luneville
sollten sie für das abgetretene Gebiet in Deutschland entschädigt
werden. Für Württemberg ergab sich noch das besonders erbauliche
Schauspiel, daß der Herzog, ohne nach den Landständen zu
fragen, einen Gesandten nach Paris schicke und dann die Landstände
wieder ihren eigenen Gesandten abordneten. Dazu kam, daß der
Erbprinz Wilhelm, der „sich nicht entschließen konnte,
in des Vaters Gedanken einzugehen und seinen idealistischen Grillen
den Abschied zu geben", nach Paris floh. Von den Ständen erhielt
er eine jährliche Dotation von 20 000 Gulden. Der Herzog aber
war aufs Höchste empört und hätte seinen Sohn ohne Napoleons
Einsprache wegen Hochverrats und Fahnenflucht verurteilen lassen. Der
Tod seines Freundes und ersten Ministers Zeppelin war ein Unglück
für das Land; ein biederer, echt deutscher Charakter, hatte er
sich bestrebt, den Herzog über sich selbst emporzuheben und seine
stürmische Leidenschaft zu beschwichtigen, die Äußerungen
seines heftigen, oft harten Charakters zu mildern. Im Reichsdeputationsschluß des
Jahres 1803 erhielt der Herzog für das abgetretene Mömpelgard
eine ganze Anzahl Reichsstädte und etliche [pag164] Abteien und
Klöster. So wurden nun das einst schwer umstrittene Reutlingen
und die alte Gegnerin Eßlingen württembergische Landstädte.
Dazu bekam der Herzog den Kurfürstentitel. Zur Feier der neuen
Würde ließ er über die Psalmstelle predigen : „Du
legest Lob und Schmuck auf ihn, denn du setzest ihn zum Segen ewiglich." Aus
den neu erworbenen Landesteilen bildete er einen besonderen Staat Neuwürttemberg,
und die Ständeversammlung, die damit nicht einverstanden war,
schickte er nach Haus. Beschwerden des Ausschusses beantwortete er
mit Strafbefehlen wegen verletzter Untertanenpflicht.
In Untertürkheim hat man, nachdem der Friede
geschlossen war und die Franzosen abgezogen, der Bürgerschaft
die Erweiterung der Kirche ans Herz gelegt. Um die Mittel dazu zu bekommen,
beschloß man, allen Schuldnern des Heiligen zu kündigen
und dann sich an die vermöglichen Bürger und die Gemeindekasse
zu halten. Aber die Bürger waren erschöpft vom Krieg und
die Gemeindekasse war erschöpft von den Ausgaben für allerlei
Kriegslieferungen und -lasten, und dazu kamen die Kosten der Wiederherstellung
der Neckarbrücke. So hat man eben im Jahr 1803 dem neuen Heiligenpofleger
Philipp Friedr. Häberlen den gesamten Barvorrat des Heiligen mit
198 Gulden überwiesen, damit er aus demselben Bauholz anschaffe,
und damit ist das Kirchbauwesen in Gang gekommen. Mit der Erweiterung
der Kirche wurde der Friedhof ins Oberdorf verlegt. Die an der Langen
Straße liegende Wendelinskapelle wurde abgebrochen und ein Friedhof
angelegt, der, 1830 erweitert, bis zum Jahr 1906 der Gemeinde als Ruheplatz
ihrer Toten gedient hat. Während der Bauzeit wurde der Gottesdienst
im Freien unter der Linde über der Brücke drüben gehalten,
die Wochengottesdienste in der Schule. Für die neue Kanzel schaute
man nach einem passenden Vorbild aus und fand es schließlich
in nächster Nähe auf dem Rotenberg, „die Einfachheit
und Simplizität" der Rotenberger Kanzel wurde das Muster der hiesigen.
Orgel und Empore waren bisher von neunerlei Säulen getragen worden.
Sie wurden nun alle gleich gemacht. Die alten eichenen Säulen
waren so dick, daß der Erlös aus denselben beinahe die Kosten
der neuen einfachen tannenen gedeckt hätte. Auch eine neue Bekleidung
für Kanzel, Altar und Taufstein von dunkelblauem Tuch mit hellblauen
Fransen wurde angeschafft. Dem Kirchbau ist die geräumige Sakristei
auf der Nordseite der Kirche zum Opfer gefallen. An ihrer Stelle wurde
auf der Südseite eine heizbare, aber kleine Sakristei erbaut,
an deren Stelle im 20. Jahrhundert die heutige getreten ist. Schwierig
war die Neuordnung in betreff des Besitzes der Kirchenstühle.
Männerstühle kosteten gewöhnlich 1 Gulden 30 Kreuzer,
Weiberstühle 1 Gulden, das Billigste war 30 Kreuzer, also 1/2
Gulden. Um die Ordnung während des Gottesdienstes aufrechtzuerhalten
und der Entheiligung der Sonn= und Feiertage entgegenzuwirken, wurde
im Mai 1804 der Umgang wieder eingeführt und die Scharwache verschärft.
Im November 1804 wurde ein neuer Landtag eröffnet,
weil er aber nicht alle Forderungen des Kurfürsten bewilligte,
wurde er schon im März 1805 wieder fortgeschickt. Als auch der
Ausschuß die verlangten Gelder verweigerte, ließ der gestrenge
Herr die Landschaftskasse erbrechen und das Geld mit Gewalt nehmen.
Im Jahr 1804 war Napoleon Kaiser der Franzosen geworden, und im folgenden
Jahr brach der dritte Koalitionskrieg aus. Am 3. Oktober 1805 hatte
Napoleon eine Unterredung mit Kurfürst Friedrich, bei der es hieß:
Wer nicht für mich ist, der ist wider mich. „Meine Staaten
wären zertrümmert worden, und mein Haus hätte von der
Barmherzigkeit fremder Höfe leben müssen." So schloß er
den Allianzvertrag mit dem Übermächtigen, und am 4. Oktober
hörte man in Untertürkheim gewaltigen Kanonendonner und das
Geläute aller Glocken von Stuttgart herüber. Napoleon hielt
seinen Einzug von Fellbach her. 8000 Mann mußte Friedrich seinem
Gebieter zum Kampf gegen Österreich und Rußland zur Verfügung
stellen. Es gab wieder Einquartierung in Masse. Die kaiserliche Armee
fühlte sich jetzt als die Herrin der Welt, aber Diebereien und
Quälereien kamen immer noch vor. Was jedoch für das Land
besonders schmerzlich war, das war, daß die nach England bestimmten
Reiterregimenter mit den Pferden des Landes beritten gemacht werden
mußten.
Bei diesem Krieg ist es jedenfalls gewesen, daß russische
Gefangene in Eisenlohrs Keller eingesperrt
waren, unter ihnen auch ein Remstäler. In Gölten ließ man
den Gefangenen den Kartoffelbrei, Russenbrei genannt, hinunter. Da
ging einmal das Licht aus und der Remstäler [pag165] wurde am
Seil heraufgezogen. Man gab ihm einen Kreben auf den Buckel und begleitete
ihn bis Rommelshausen. Erst nach einiger Zeit merkten die Franzosen,
daß einer fehlte. Es kam aber nichts heraus. Der nach der Schlacht
von Austerlitz geschlossene Friede zu Preßburg brachte dem Verbündeten
des Kaisers die Königswürde und große Gebiete in Oberschwaben
und im Hohenlohischen. Das „Reich" des neuen Königs zählte
nun 1 200 000 Einwohner. Am 1. Januar 1806 wurde in Stuttgart mit viel
Lärm und großer Feierlichkeit und einem Festgottesdienst
die Königswürde proklamiert. „Seine Kgl. Majestät
hat allergnädigst zu befehlen geruht, daß in "Beziehung
auf allerhöchstdero Person keine andere Titulatur gebraucht werde
als: Friedrich von Gottes Gnaden König von Württemberg." War
der König in Wirklichkeit von Napoleons Gnaden, so war er dafür
in seinem Lande souverän, unbedingter Herr und Gebieter. Den Rat
seines Freundes: „Chassez les bougres", jagt die Schurken fort,
befolgte er mit Freuden und erklärte die landständische Verfassung
für aufgehoben. Am 30. Dezember 1805 „gingen die Ausschußmitglieder
vom Landschaftshaus über den Schloßplatz, ein langsam schwankender
Zug dunkel gekleideter Männer mit gesenktem Blick. Ich konnte
mich nicht erwehren, an einen Leichenzug zu denken". Das Kirchengut
wurde eingezogen mit dem Versprechen, für die Bedürfnisse
der Kirchen zu sorgen. Die allgemeine Dienstpflicht wurde nach französischen
Vorbild eingeführt. Ein Organisationsmanifest setzte an die Stelle
des alten Geheimrats ein Ministerium mit sechs Departements, besonders
wichtig das Polizeiministerium. Die Polizei hatte zwar nicht die Fähigkeit,
wohl aber den Willen, auch den Gedanken nachzuspähen. Die öffentliche
und geheime Überwachung ging so weit, daß man nicht einmal
mehr in Privatgesellschaften freie Meinungsäußerung wagen
durfte. Am 12. Juli 1806 wurde in Paris der Rheinbund geschlossen,
dessen Protektor und Schutzherr Napoleon war. Das alte Deutsche Reich
war damit zerstört. Aber die jammervollen, verlotterten, schmählichen
Zustände im alten Reich hatten alles Nationalgefühl ertötet,
und jetzt konnte ein angesehener deutscher Schriftsteller schreiben
: „Reichtum, Ruhe und Genuß werden für den Verlust
der Selbständigkeit entschädigen; das politische Joch wird
süß sein, und über Europa wird ein goldenes Zeitalter
aufgehen. "Zunächst hatten die Untertanen freilich eben das politische
und polizeiliche Joch zu tragen: zahlen, parieren, 's Maul halten.
Alle Beamten bis zum letzten Kastenknecht und dem Stuttgarter Mesner
wurden vom König ernannt. Die Beamten wurden schlecht bezahlt,
aber für das geringste Vergehen exemplarisch gestraft und mußten
den Eid unbedingter Treue und Untertänigkeit leisten. Zwei hohe
Kirchenbeamte, Prälat Sartorius und Konsistorialrat Georgii verweigerten
ihn und legten ihre Ämter nieder. Die Neuwürttemberger ließen
sich's gleichmutig gefallen, daß das württembergische
Wappen an den öffentlichen Gebäuden angeschlagen wurde; aber
mit Seufzen zahlten die die Ordinaristeuer, die von 3 1/2 auf 14 Simpel,
also um das Vierfache gestiegen war, und noch schlimmer war die Aushebung
zum Kriegsdienst. Aber nicht bloß für das Heer brauchte
der neue König viel Geld, sondern er war entschlossen, seinen
Hof zu einem der glänzendsten zu machen; und das Geld hatten die
Untertanen unweigerlich aufzubringen, Landstände, die mäßigend
einwirken und übertriebene Forderungen verweigern konnten, gab
es nicht mehr. So war statt des goldenen Zeitalters eine eiserne, teure
und böse Zeit. Die Untertürkheimer hatten die Kirchenerweiterung
durchgeführt, aber das Jahr 1805 brachte einen Fehlherbst, und
als die Handwerksleute ihr Geld wollten, war keines da; denn fast niemand
zahlte dem Heiligen den Zins. So mußte die Heiligenkasse ein
Anlehen von 400 Gulden aufnehmen; aber bis die königlichen Ämter
sich zur Genehmigung desselben herbeiließen, verging wieder Jahr
und Tag. Und zu der Geldnot kam die Krankheitssnot. In Cannstatt brach
das Nervenfieber aus, und bald verbreitete es sich auch nach Untertürkheim.
Im Jahr 1806 forderte es hier 13 Todesopfer. Ein Beweis der Not und
der Unterernährung durfte es auch sein, wenn in einem Jahr unter
47 Gestorbenen 38 Kinder waren, von denen 12 an Husten starben, im
folgenden von 54 Toten 36 Kinder, 23 an Gichtern, 8 an Roten Flecken
starben. Hat die Königliche Regierung despotisch strenge Zucht über
das Volk geübt, so wurde leider die Zuchtlosigkeit der Jugend
dadurch nicht geringer. Immer wieder mußte über die ungezogene
Aufführung der ledigen Söhne während des Gottesdienstes
geklagt werden, und die unerlaubten [pag166] Schulversäumnisse
nahmen so überhand, daß man
schließlich eine Strafe von 3 Kreuzer zum Besten der Schule festsetzte.
Am Jakobifeiertag 1808 aber kam es vor,
daß der Landreuter nachts
12 Uhr im „Ochsen" 22 Personen beim Wein traf. Als er ihnen pflichtgemäß ausbot,
gehorchten sie nicht und bedrohten ihn sogar, so daß er den Säbel
ziehen und die Pistole spannen mußte, um ungefährdet fortreiten
zu können. Die 22 Burschen wurden dann um je einen Nachtgulden
in den Heiligen gestraft, und man beschloß, um Einquartierung
eines Landreuters im Flecken gehorsamst nachzusuchen, falls solcher
Unordnung durch Scharwache und Beiwächter nicht gesteuert werden
könne.
Zur Verherrlichung seines Königtums ließ Friedrich
die Königstraße erstehen mit dem Marstall, der von der Solitüde
herab verlegt wurde, und der katholischen Kirche, das Reich war ja
jetzt paritätisch. Aus den Kartoffelfeldern und sumpfigen Wiesen
zwischen dem neuerrichteten Königstor und Cannstatt schuf er die
herrlichen Anlagen, diese Lunge der zukünftigen Großstadt.
Die Verbesserung der Volksbildung lag dem König sehr am Herzen,
so ließ er das erste Schullehrerseminar einrichten. Bisher hatten
die Inzipienten drei Jahre bei einem Schulmeister gelernt und wurden
dann Provisoren. Den Pfarrern wurde regelmäßiger Schulbesuch
eingeschärft und zur Pflicht gemacht, auch selbst Religionsunterricht
zu geben. Sodann wurden Schulkonferenzen zur Fortbildung der Lehrer
eingeführt. Dem Untertürkheimer Pfarrer Busch, der schon
bisher sich bemüht hatte, die Kenntnisse seines Schulmeisters
und der Provisoren zu erweitern, wurde die Leitung einer Schulkonferenz übertragen. Über
die Verbesserung des baufälligen hiesigen Schulhauses wurde freilich
immer noch nur „deliberiert". Und als das Oberkonsistorium allergnädigst
verordnete, daß jeder Lehrer sein eigenes Zimmer haben sollte,
half man sich damit, daß die erste Klasse von 6 bis 8 Uhr, die
zweite von 8 bis 10 Uhr in der Schulstube und die dritte in der Kirche
unterrichtet werden sollte. Statt des Pfingstexamens wurde eine öffentliche
Prüfung der Sonntagsschüler in der Kirche gehalten, bei der
Geldprämien ausgeteilt wurden. Die Söhne bekamen 12, 9, 6
und 3 Kreuzer, die Töchter 9, 6 und 3 Kreuzer. Eine Wohltat für
die Lehrer war, daß das Schulgeld vom Bürgermeisteramt eingezogen
wurde, und der Lehrer sich nicht mehr mit morosen Schuldnern herumschlagen
mußte; dagegen hatte er 6 notorisch arme Kinder gratis zu unterrichten.
Die Fürsorge des Königs für die Kirche zeigte sich in
der Einteilung der evangelischen Landeskirche in 6 Generalsuperintendenzen
und 53 Dekanate. Die neugewonnenen katholischen Untertanen gehörten
nicht weniger als fünf verschiedenen [pag167] Bistümern an.
Durch Königliche Ordonnanz, ohne das Gutachten der Synode einzuholen,
wurde eine neue Liturgie eingeführt, der ein schwülstiger
Stil die fehlende Wärme und Innigkeit ersetzen sollte, an der
aber niemand eine Freude hatte, obgleich sie die „Ausbildung
der religiösen Gefühle, Erhöhung der Andacht und vernünftige
Gottes Verehrung" bei der Gemeinde erreichen sollte. Auch im Rechtswesen
brachte die neue Zeit eine Verbesserung, im Jahr 1809 wurde die Tortur
abgeschafft, dagegen wurden den Dorf- und Stadtgerichten ihre Gerichtsbarkeit
entzogen und den neugebildeten Oberamtsgerichten alles zugewiesen.
Während der König den Gang der Zivilprozesse nie störte,
griff er im Eifer seiner Gerechtigkeitsliebe in die Kriminalprozesse
manchmal ein, und Fälle von dem, was man Kabinettsjustiz nennt,
waren nicht selten. Seine Gerechtigkeit kam auch den Juden zugut, denen
er den Erwerb liegender Guter, um sie zu bebauen, und die Ausübung
zünftiger Gewerbe gestattete. Der Schorndorfer Buchhändler
Palm, der ein Büchlein „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" verbreitet
hatte, wurde auf Befehl Napoleons erschossen. Sonst muß gesagt
werden, daß Friedrich mit Napoleon wie Macht gegen Macht verkehrte.
Nie lieferte er einen Untertanen französischen Gerichten aus.
Nach der Niederwerfung des Aufstands im Allgäu weigerte sich Kronprinz
Wilhelm, den gefangenen Rädelsführer den Franzosen auszuliefern.
Der Bauernaufstand in Mergentheim wurde freilich von Friedrich aufs
grausamste bestraft, obgleich die „.Rebellen" noch nicht einmal
ihrer bisherigen Untertanenpflicht entlassen waren und die Mergentheimer
sich an dem Aufstand gar nicht beteiligt hatten. In die inneren Angelegenheiten
seines Landes gestattete Friedrich dem Kaiser keinen Eingriff. Er weigerte
sicht den Code Napoleon einzuführen, gestattete aber auch nicht,
daß seine Truppen in Spanien und gegen die aufständischen
Tiroler verwendet wurden. Als im Jahr 1809 der Krieg mit Österreich
ausbrach und 16 000 Württemberger mitziehen mußten, da wurde
im Land ein Aufruf verbreitet, die schmachvollen Ketten zu zerbrechen,
die dem Volk unter dem Schutz Frankreichs auferlegt worden seien. Nun
wurde die 1808 eingeführte Zensur noch verschärft, besondere
Beamte zur Beaufsichtigung der Buchhandlungen angestellt und jedes
politische Gespräch bei schwerer Strafe verboten. Ein Perückenmacher,
welcher unwahre und unschickliche Äußerungen über
die Kriegsereignisse und politische Konjekturen gemacht hatte, wurde
zum abschreckenden Beispiel für alle in den Tag hinein räsonierende
Schwätzer mit Festungshaft auf unbestimmte Zeit bestraft. Im Jahr
1809 erließ der König eine Konskriptionsordnung, nach der
jeder Untertan vom achtzehnten bis vierzigsten Jahr dienstpflichtig
war. Seine Gerechtigkeit bewies er jetzt damit, daß er keine
Ausnahmen mehr gestattete. Nicht bloß Studenten, sondern auch
angestellte Schreiber, Advokaten, Ärzte, Apotheker wurden ausgehoben.
Er wollte sich aus ihnen gute Offiziere heranschulen. Daß im
Jahr 1808 die Einführung von pfarramtlichen Familienregistern
befohlen wurde, mag seinen Grund vor allem darin gehabt haben, daß die
Pfarrer mit Hilfe derselben die Konskriptionslisten genauer führen
konnten. Das Militär bildete jetzt eine eigene Kaste und war dem
Souverän zu unbedingtem, blindem Gehorsam verpflichtet. Während
früher die Bürger bei Leistung des Bürgereides mit ihren
Waffen erschienen waren, als die zur Verteidigung des Vaterlandes Berufenen,
mußten jetzt alle Gewehre der Ortsobrigkeit abgegeben werden.
Das geschah allerdings nicht bloß aus Furcht vor einem Ausstand,
sondern namentlich auch, um den Wilderern das Handwerk zulegen. Der
Wildschaden war wieder ins Ungeheure gewachsen. Der König hatte
die Gemeindewildschützen wieder abgeschasst und die Jagden zu
Hoffesten gemacht, für die die Bauern wochenlang vorher fronen
mußten, vom Jagdpersonal aufs gemeinste behandelt. Nach Beendigung
des Kriegs mit Österreich verheiratete sich Napoleon, um den Glanz
seiner Herrschaft zu vollenden, mit der österreichischen Kaiserstochter
und beschied seine untergebenen Rheinbundfürsten nach Paris. Hier
wurden ihnen weitere Gebiete zugeteilt. König Friedrich erhielt
Ulm und andere Oberländer Reichsstädte und Hohenloher Gebietsteile,
und sein Reich umfaßte jetzt 354 Quadratmeilen mit 1 400 000
Einwohnern. Bei Napoleons Besuch in Stuttgart seien seine Mienen so
freundlich gewesen wie nie vor- oder nachher. Im Jahr 1811 gebar ihm
seine Gemahlin Marie Louise einen Sohn und er stand nun auf dem Gipfel
seiner Macht. England hatte er durch die Kontinentalsperre, die zu
der Erfindung des Rübenzuckers [pag168] führte, schwer geschädigt,
und das übrige Europa lag ihm zu Füßen. Nur Rußland
war ihm noch nicht ganz zu Willen. Um durch Niederwerfung dieses Gegners
seine Weltherrschaft zu vollenden, bereitete er den Krieg vor, ja dem
ein Heer in noch nie gesehener Größe und Vollkommenheit
der Ausrüstung gesammelt wurde. Württemberg mußte 16
000 Mann stellen. Als König Friedrich am 1. Mrz 1812 Heerschau
hielt, war er besonders ernst gestimmt. Doch es konnte ja nicht fehlen,
und nachdem im Juni das Heer die Grenze überschritten hatte, kamen
im Laufe des Sommers und Herbstes Siegesnachrichten, so daß am
4. Oktober ein Dankfest für die errungenen Siege angeordnet wurde.
Aus dem Kriegsgebet mußte aber der Satz gestrichen werden : „Entferne
alles Unglück von dem Anführer der Truppen !" Dann kamen
dunkle Gerüchte von dem Brand von Moskau. Die Bulletins aber lauteten
noch Mitte Dezember ganz beruhigend; aber auf Neujahr 1813 wurden alle
Festlichkeiten abbestellt, und das letzte Bulletin lautete brutal: „Die
große Armee ist vernichtet, die Gesundheit Sr.Majestät ist
nie besser gewesen." Anfang des Jahres kehrte der jämmerliche
Rest des stolzen Korps zurück. Als von einem Regiment nur noch
ein Manu übrig war, kamen auch dem König die Tränen.
Doch bereits war die Aushebung wieder im Gang, und um die Mittel aufzubringen,
ordnete der König eine Vermögens-, Besoldungs- und Pensionssteuer
an, redete aber doch von unverschuldet aufgelegten Lasten. Napoleon
hörte das nicht gerne, beruhigte sich aber damit, daß dieses
maßvolle, vernünftige und duldsame Volk nicht genug Mörder
sei, um eine Revolution zu machen. Daß es übrigens in Untertürkheim
Verehrer des Korsen gegeben hat, ist daraus zu sehen, daß der
Bürgermeister und Handelsmann Widmann sein Büblein Napoleon
Leopold Benjamin hat taufen lassen.
Im Sommer 1812 war die Gemeinde Untertürkheim
vom Oberamt gerüffelt worden, weil der Neckar wieder einen ungeheuren
Uferriß gemacht habe, der Schultheiß erwiderte aber, an
der Zerstörung sei bloß die Stauung am Berger Königlichen
Mühlenwehr schuld. Die Uferbauten des Neckars seien für die
Gemeinde unerschwinglich. In dem furchtbar kalten Winter 1812/13 hatte
man das Geld zur Unterstützung der Armen nötig. Die Ortsarmenkasse
hatte 300 Gulden zur Verfügung. Der Armenfonds von 2020 Gulden
trug 100 Gulden Zins, Opfergelder waren 102 Gulden 30 Kreuzer eingegangen,
dazu kam das Glöcklensgeld mit 36 Gulden und das jährliche
Fruchtgratil, das fernd 28, 1813 aber 42 Gulden ausmachte, und endlich
der Zuschuß des Heiligen. Vor allem mußte der neue Heiligenpfleger
Christoph Friedrich Keefer Zwei Maß Tannenholz kaufen, um sie
scheiterweis unter die Bedürftigsten auszuteilen. In der Amtsstube
des kränkelnden Rates Heller wurde über einen Plan der Landvogtei
Rotenberg zur Versorgung der Armen beraten. Aufstellung besonderer
Armenpfleger wurde nicht für nötig befunden, da der Heiligenpfleger
und die beiden Bürgermeister genug Personenkenntnis und ein Herz
für die Armen haben. Die hiesige Bevölkerung war im Vergleich
mit andern Orten nicht schlecht gestellt. Abgesehen von den Verdienstgelegenheiten,
die es am Ende überall gibt, wie Spinnen, Stricken, Waschen oder
im Sommer Taglohnarbeit, ernährten sich sommers und winters viele
mit Milch- und Gemüsehandel nach Stuttgart, und dann gaben die
in den letzten Jahrzehnten entstandenen Fabriken in Berg, Cannstatt,
Eßlingen auch manchem regelmäßigen Verdienst. So waren
denn ganz nahrungs- und verdienstlos nur 6-8 Arme. Unser Ort war mit
1673 Einwohnern der zweitgrößte des Bezirks, erst war Fellbach
mit 2539 Einwohnern, Ulbach mit Rotenberg hatte 1337, Rommelshausen
1170, Weilimdorf 1166, Hedelfingen 999, Wangen 975, Rohracker 831,
Obertürkheim 727, Mühlhaufen 655, Schmiden 650, Münster
398. Die Zahl der Schulkinder war hier 297, in Fellbach 360, in Uhlbach
231, in Wangen 196. Nach zwanzigjährigem Dienst ist Pfarrer Busch
abgezogen, und an seine Stelle trat Johann Friedrich Pfister, der als
Diakonus in Vaihingen a. d. E. die Archive der neuen Lande zu untersuchen
und für das Hauptarchiv in Stuttgart auszusondern gehabt hatte.
Er ist hierher versetzt worden, um in der Nähe des Archivs seine
geschichtlichen Studien, insbesondere seine Geschichte Württembergs
leichter fortsetzen zu können.
Die Aushebung des Frühjahrs 1813 hat wieder 12
000 Mann zusammengebracht. Sie wurden in dem Feldzug des Jahres von
den Franzosen an die gefährlichsten Posten gestellt, „weil
[pag169]sie doch bald gegen uns fechten". Das wurde dann wahr, als
in der Schlacht bei Leipzig Graf Normann mit zwei Reiterregimentern
zu den Verbündeten überging. Der König war wütend.
Normann floh und die Reiter mußten bei der Rückkehr zu Fuß und
ohne Waffen einziehen. Erst nachdem Napoleon den Rhein überschritten
hatte, schloß Graf Zeppelin im Auftrag des Königs einen
Bündnisvertrag mit Metternich, demzufolge Württemberg 24
000 Mann stellte unter dem Oberbefehl des Kronprinzen Wilhelm. Bei
den Durchmärschen der Verbündeten war am Sonntag, den 19.
Dezember, das ganze Dorf voll von Kosaken, die einen solchen Lärm
und solche Unruhe machten und die Einwohner so in Atem hielten, daß den
ganzen Tag kein Gottesdienst gehalten werden konnte. Bei dem Feldzug
in Frankreich stand der Kronprinz bei Monrereau mit 10 000 Mann 30
000 Franzofen gegenüber, und als er einmal mit seinem Stabsoffizier
und dem Ordonnanzunterossizier Bartholomäus Warth von den Franzosen
umzingelt wurde, sagte er kaltblütig: „Für mich ist
noch keine Kugel gegossen" und hat sich mit Hilfe seiner Begleiter
durch die Franzosen durchgehauen. Bartholomäus' Bruder Andreas,
der bei den Schwarzen Jägern stand, fiel auf der Seinebrücke
bei Montereau. Diesmal mußte der Kronprinz zurück, aber
einen Monat später hat er Napoleon bei Arcis über die Aubebrücke
zurückgeworfen, und am 30. März stand er mit seinen Württembergern
vor Paris. Am 7. April vernahm man hier Kanonendonner und Glockengeläute.
In Stuttgart sprengte ein Herold durch die Straßen und verkündigte: „Paris
ist gefallen !" Am Ostermontag wurde ein allgemeines Dankfest gefeiert.
Die zurück- kehrenden Truppen wurden vom König nach einet
Parade * bei Vaihingen glänzend bewirtet. Der Kronprinz wollte
in aller Stille heimkehren, aber sein Wagen wurde erkannt und von einer
jubelnden Volksmenge bis zum Schloß begleitet. Am 1. März
1815 erließ der König eine neue Konskriptionsordnung, durch
die das Los und die Stellvertretung wieder gestattet wurde. Und sie
sollte gleich in Anwendung kommen, denn am 20. März war Napoleon
wieder in Paris, und es wurden 21 000 Württemberger ausgesandt
um mit den Verbündeten den Friedensstörer unschädlich
zu machen. So gab es neue Truppendurchmärsche Am 18. Juni half
Blücher dem Engländer Wellington zum endgültigen Sieg über
Napoleon, der nun in St. Helena sicher aufbewahrt wurde. Die Rückkehr
Napoleons hatte den Wiener Kongreß gestört, zu dem [pag170
auch unser König gereist war. Er war
schon am 1. Januar 1815 zurückgekehrt und erließ ein Manifest,
daß er beschlossen habe, seinem Volk eine den Rechten des Einzelnen
und den Bedürfnissen des Staates angemessene Verfassung und ständische
Repräsentation zu geben. Am 1 5. März übergab der König
feierlich in einer goldenen Kapsel dem versammelten Landtag die von
ihm beschlossene neue Verfassung. Aber der Landtag wollte kein geschenktes
Recht und erklärte, nur auf der Grundlage des alten Rechts könne über
das neue verhandelt werden. Als dann nach Vertagung des Landtags eine
Darlegung erweisbarer Tatsachen, betreffend die Beschränkung der
Wirksamkeit der Geistlichen, verlangt wurde, versammelte Spezial Klett
seine Pfarrer, und es wurde eine gemeinsame Eingabe verfaßt,
Se. Majestät möchte die Liebe aufs neue begründen und
die bisher so kalt gefeierten Geburtsfeste wieder in eine freiwillig
allgemeine und segensvolle Feier der Herzen verwandeln. Aber sie wurde
sehr ungnädig aufgenommen. Es werde durchaus keine Einmischung
der Geistlichen in die öffentlichen Angelegenheiten geduldet,
noch weniger ein gemeinschaftliches Vorgehen. Das Oberkonsistorium
hatte die Anmaßenden ernstlich zurechtzuweisen. Der Dekan nahm
die Zurechtweisung mit der Gelassenheit hin, die er dem Ministerium
schuldig sei. Der gesamten Geistlichkeit wurde dann unter Androhung
nachdrücklicher Ahndung verboten, politische Gegenstände
in ihren Kanzelvorträgen zu berühren oder auch nur Anspielungen
darauf zu machen. Den Landständen machte der König weitgehende
Zugeständnisse, so daß Freiherr vom Stein sagte, der König
habe sich bei dieser Sache wahrhaft groß gezeigt. Aber der Landtag
blieb halsstarrig auf seinem doch im Grunde kleinlichen Standpunkt.
Am Ende des Jahres hat man dann Dekan Klett, den tapferen Kämpfer
für die gute Sache, zu Grab getragen. Was bei alledem erreicht
wurde, war, daß der König beinahe 4000 Stück Rotwild
und 2500 Stück Schwarzwild abschießen ließ.
Dagegen kamen die Untertürkheimer im Jahr 1816
um ein gutes Stück weiter. Im Winter 1814/15 hatte man die vermietete
Wohnstube des Schulmeisters als zweite Schulstube benützen müssen,
weil der Schulhausbau immer wieder auf sich warten ließ. Pläne
wurden gemacht und verworfen und eine Eingabe Jahr und Tag unbeantwortet
gelassen, bis endlich im Frühjahr 1816 der Ankauf eines Bauplatzes
gelang und der Bau in Gang kam. Und gerade noch vor Einbruch des Winters
konnten die drei Schulstuben bezogen und die 300 Kinder in Gegenwart
der geistlichen und weltlichen Ortsvorsteher in ihre drei Klassen eingeführt
werden. Daß dieser Schulhausbau fertig wurde, war deshalb noch
besonders dankenswert, weil er in die Zeit der größten Not
fiel. Im Jahre 1815 versuchte der Medizinalpraktikant Schmank Genehmigung
zur Errichtung einer Hausapotheke zu erhalten, er wurde jedoch abgewiesen
mit seinem Gesuch. Der Winter 1815/16 war besonders streng. Schon im
Dezember und dann wieder im Januar waren Holzverteilungen vorgenommen
worden, und im Februar wurden außer den schon bedachten 59 Familien
an weitere 49 Familien 3-6 Scheiter ausgeteilt. Von einer Stuttgarter
Unterstützungsgesellschaft wurden 420 Gulden übergeben zur
Verteilung unter die würdigsten und bedürftigsten Weingärtner.
Bei dem steigenden Brotpreis mußte aber dann im April eine Verteilung
unter denen vorgenommen werden, die keinen Weinberg besaßen.
Im Mai fingen die Gewitter an mit nachfolgender Kälte, am 13.
hat es geschnieen. Dann regnete es, daß der Juni nur vier, der
Juli nur drei Tage mit heiterem Himmel hatte. Im August kamen sonnigere
Tage, daß das Korn schnittreif wurde; aber das Unkraut: Schwindelhaber,
Dippelhaber, Kornraden u. a. ist viel besser geraten als das Korn.
Die Schafe wurden krank, das Vieh kraftlos. Im Lauf des Jahres stieg
der Preis des Scheffels Kernen von 13 auf 36 Gulden, der der Kartoffeln
von 20 Kreuzer auf 1 Gulden 8, also 68 Kreuzer. Wenn ein Weingärtner
für den Morgen 24 Gulden 20 Kreuzer Baulohn bekam, konnte er noch
keinen Scheffel Kernen dafür kaufen. Am 24. Juli wurden die von
der Regierung angewiesenen 34 Scheffel Dinkel zu wohlfeilen Preisen
verteilt. Unter die, die nicht zahlen konnten, wurden 86 Pfund Brot
ausgeteilt, so daß 30 Personen je 2-4 Pfund erhielten. Am 1.
und 19. August wurden 33, am 25. August 43 Personen mit 2-4 Pfund Brot
bedacht. Vom 23. August bis 14. September dauerte die Ernte. Der Herbst
begann erst im November; man las einzelne weniger harte Trauben heraus,
um einen sauren Saft herauszupressen, die andern ließ man [pag171]cm
Stock hangen. Ende Oktober und Anfang November war das Wetter heiter
und warm, und man wollte die Kartoffeln vollends ausreifen lassen.
Da setzte um Martini Sturm und Schneegestöber ein, so daß Anfang
Dezember noch ein großer Teil der Kartoffeln in der gefrorenen
Erde lag. Auf der Alb begannen sie Anfang November mit der Haberernte,
da kam Regen und Schnee, und als im Dezember Tauwetter eintrat, haben
die Leute unter Regen und Schnee Garben gebunden. Der Flachs und Hanf
lag auf der Spreite und verdarb unter der Schneedecke. Das hatte dann
wieder große Arbeitslosigkeit zur Folge. Am 17. November hielt
Pfarrer Pfister die Ernte- und Herbstdankpredigt über den Text: „Die
Güte des Herrn ist, daß wir nicht gar aus sind." Klagel.
3, 22-26. Am 22. Dezember wurde die Trauerpredigt für den verstorbenen
König gehalten. Er hatte sich bei den Mammutausgrabungen zu Cannstatt
erkältet und starb am 30. Oktober an einer Lungenlähmung.
Napoleon nannte ihn einen harten, aber rechtlichen Mann, den geistvollsten
Fürsten Europas; wenn er 80 000 Mann hätte, würde er
ihn fürchten. Seine Untertanen hatten Grund, ihn zu fürchten.
Er hat mit despotischer Gewalt die verschiedenen Städte und Landschaften,
die ihm zugeteilt wurden, zu einem wohlgeordneten, festgefügten
Staatswesen bereinigt. Aber für die Bürger seines Reiches
gab es nur eines: schweigen, gehorchen, bezahlen. Die Steuer stieg
auf 20 Gulden pro Kopf. Seine Leidenschaft für schöne Jünglinge
hatte zur Folge daß er den Bereiterjungen Dillen zum Grafen machte
und ihm das Jagdwesen unterstellte. Tausende von Morgen blieben unangebaut,
weil das Wild, namentlich die Säue, alles verwüsteten.
König Wilhelm I. bestieg den Thron unter dem
Jubel des Volkes, empfangen mit einem Maß von Liebe, Vertrauen
und Hoffnung, wie nicht leicht ein Fürst, und dasselbe galt seiner
Gemahlin Katharina. Man glaubte es ihnen, daß das einzige Ziel
ihrer Bemühungen das Glück und die Wohlfahrt ihrer Landeskinder
sein werde. Gleich am 9. Januar 1817 stiftete der König den Wohltätigkeitsverein
für das ganze Land, um dem großen Elend zu steuern. Am 11.
Januar beschloß der Untertürkheimer Kirchenkonvent, vier
besondere Armenaufseher zu wählen: Gottlieb Zaiß, Gottlieb
Friedrich Warth, Ratsverwandter Neef und Johannes Kurz. Sie stellten
eine Liste von 53 Familien und 17 Einzelnen auf, die besonders bedürftig
erschienen. Von den Bürgern, die bisher Unterstützung gegeben
hatten, waren 130 auch in Bedrängnis geraten, und nur 160 konnten
noch etwas geben. Es wurden 210 Gulden unverzinsliches Anleihen gezeichnet,
und der Heiligenpfleger Keefer kaufte in Münchingen 75 Simri Kartoffeln
zu 1 Gulden 16 Kreuzer. An der nach Fellbach anzulegenden Straße,
die in einem greulichen Zustand gewesen war, fanden im Februar 40 Personen
mit 30 Kreuzer Taglohn Arbeit, auch wurde beschlossen, Hanf und Abwerg
zur Beschäftigung der weiblichen Armen zu kaufen. Die Vermöglicheren
wurden veranlaßt, monatliche Beiträge zu geben, so daß doch
40 Gulden und etwas Kartoffeln im Monat zusammenkamen. Der Bettel wurde
verboten. 17 verschämte Hausarme bekamen monatlich 2 Scheffel
1 Vierling Kartoffeln. Um den Bettel der Durchreisenden verbieten zu
können, wurde beschlossen, einem ordentlichen Handwerksburschen
2 Kreuzer, einem sonstigen Durchreisenden 1 zu verabreichen. Die Zumutung
des gemeinschaftlichen Oberamts, Untertürkheim solle auf das altherkömmliche
Fruchtgratial verzichten, wurde mit Entrüstung zurückgewiesen.
Der vorjährige Obstsegen sei das einzige, was nach vier Mißjahren
den Einwohnern zugute gekommen sei. Dagegen habe die Überschwemmung
nicht bloß den Heu- und Öhmdertrag, sondern auch einen großen
Teil der Erdbirnen verdorben. Zwei Familien haben hier je eine dritte
für dieses Jahr zu versorgen. Bis 1. April haben 50 Bürger
um einen Vorschuß gebeten, um Saatkartoffeln kaufen zu können.
So mußten 700 Gulden vom Heiligenpfleger aufgenommen werden,
ein kleiner Teil davon unverzinslich. Daß es übrigens den
Untertürkheimer Armen nicht am schlechtesten ging, sieht man daraus,
daß eine Rumfordsche Suppenanstalt nicht eingerichtet werden
konnte, weil der größte Teil der Armen zu leckerhaft war.
Diese Suppe wurde nämlich gemacht aus 40 Maß Wasser, in
dem ein Quantum Knochen so ausgekocht wurde, daß es eine kräftige
Brühe, mit einer dicken Fettschicht bedeckt, gab. In dieser Brühe
wurden 16 1/2 Pfund Grütze, 15 Pfund Erbsen, 9 Pfund Brot mit
4l/a Schoppen Essig und 22/3 Pfund Salz gekocht. Auch für das
Brot wurden allerlei Ersatzmittel vorgeschlagen [pag172]gen, obgleich
im April Schiffe mit ausländischem Getreide in Cannstatt ankamen.
Man stellte ein Runkelrübenbrot her, machte Mehl aus Queckenschnüren,
buk ein Brot aus 10 Pfund Malzschlamm und 5 Pfund geringem Mehl, von
dem der Laib um 24 Kreuzer verkauft wurde. Im Juni wies das Oberamt
dem hiesigen Ort 14 Scheffel Haber und 14 Scheffel Dinkel an. Trotz
der Getreidevorräte, die der König gleich nach seiner Thronbesteigung
zu kaufen befohlen hatte, und die im Mai und Juni allmählich ankamen,
stieg doch der Getreidepreis unaufhörlich. Am 14. Juni wurden
als Höchstpreis festgesetzt 42 Gulden für Kernen, 27 für
Roggen, 12 für Haber, 2 Gulden 30 für Kartoffeln. Daß aber
die Fürsorge des Königs doch von großem Nutzen war,
zeigt der Vergleich mit Augsburg, das mitten im Kornland liegt, und
wo der Preis des Kernen auf 87, des Habers auf 23 1/2 Gulden gestiegen
ist. Der hiesige Wohltäfigkeitsvcrein hat von Februar bis Juli
540 Gulden für die Armen verwendet: 60 Gulden betrug das Fruchtgratial,
238 Gulden hat die Bürgerschaft aufgebracht, der Rest wurde vom
Heiligen bestritten, dessen Kräfte nicht erschöpft waren.
So konnte vor der freudig erwarteten reichen Ernte noch einmal an 50
Bürger Geld ausgeteilt werden, damit sie an den von der Kommune
erkauften Früchten etwas abtragen konnten. Am 28. Juli wurde in
Stuttgart der erste Wagen mit Roggen festlich bekränzt von 1800
mit Blumen und Kornährenkränzen geschmückten Schulkindern
unter Lobgesängen und dem Geläute aller Glocken in die Stadt
geführt. In den Kirchen wurden Dankgottesdienste gehalten. Ähnlich
wurde auch hier das Dankfest gefeiert. Im August waren es nur noch
11 Personen, die monatliche Unterstützung nötig hatten. Der
Herbst ist allerdings wieder schlecht ausgefallen. Am 27. September
feierten die Württemberger zum erstenmal mit Freude und Dank gegen
Gott den Geburtstag König Wilhelms. Wieviel hatte er schon für
das Wohl des Landes getan! Er hat den üppigen Hofhalt vereinfacht,
Gefangene begnadigt, die geheime Polizei aufgehoben, das Briefgeheimnis
und die Preßfreiheit wiederhergestellt. Eine besondere Wohltat
für das Land war die Verordnung, daß alles Wild außerhalb
der Wälder abgeschossen werden dürfe und Schwarzwild nur
noch in eingehegten Parken gehalten werden solle. Und als sein Verfassungsentwurf
auch abgelehnt wurde, erklärte er, er werde das Volk doch in den
Genuß der ihm zugedachten Rechte setzen. So ordnete er die Wahl
von Gemeindedeputierten (Bürgerausschuß) an, durch die die
Gemeinden vor Übergriffen und Ungerechtigkeiten des Magistrats
geschützt werden sollten.
Am 31. Oktober, einem Werktag, wurde die Jubelfeier
der Reformation begangen. Des Pfarrers sechsjähriges Büblein
trug eine Bibel vor der Prozession der Schulkinder her, der sich am
Rathaus der Magistrat anschloß. Der Gottesdienst begann mit einem
Wechselgesang zwischen einem Mädchenchor auf der Orgel und einem
Knabenchor am Eingang der Kirche. Die Bibel wurde auf den Altar gelegt.
Hinter demselben war das lebensgroße Kruzifix wieder aufgerichtet,
auch die von Bürgermeister Koch gestiftete Pfarrerstafel wurde
ergänzt und wieder aufgehängt. Am Himmelfahrtsfest hatte
nämlich der Blitz in den Kirchturm eingeschlagen und ihn an mehreren
Orten beschädigt. Auf das hin wurde ein Blitzableiter angebracht
und dann auch das Innere der Kirche auf das Reformationsfest erneuert,
die bunte Vertäfelung der Emporkirche und die Kirchenstühle
wurden gleichmäßig mit silberner Leimfarbe gestrichen. Im
Sommer 1818 wurde vom Kirchenkonvent eine Industrie« und Arbeitsschule
ins Leben gerufen, besonders für Mädchen, die nicht auf dem
Felde zu arbeiten hatten. 60 Mädchen meldeten sich, auch auswärtige,
die dann statt 15 Kreuzer 20 im Monat zu zahlen hatten. Die Lehrerin
sollte in den Sommermonaten 20, im Winter 12 Gulden monatlich erhalten.
Was nicht durch Schulgeld einging, hatte der Heiligenpfleger draufzulegen.
An Stelle Keefers war Johann Jakob Hammer zum Heiligenpfleger gewählt
worden. Am Andreastag wurde vor dem Feiertagsgottesdienst das fünfzigjährige
Amtsjubiläum des ehrwürdigen Schulmeisters Schönlin
festlich begangen und ihm in Gegenwart des Kirchenkonvents und der
gesamten Schuljugend vom Pfarrer die ihm vom König zuerkannte
goldene Verdienstmedaille überreicht. Seit 1775 unterrichtete
er die Untertürkheimer Jugend. Er wohnte im eigenen Haus. Wegen
seines Alters und eines Augenleidens wurde in der letzten Zeit ein
dritter Provisor angestellt. Sein Gehalt [pag173] betrug 514
Gulden, nämlich 337 Gulden Schulgelder,
25 Gulden
für den Organistendienst und 152 Gulden Mesnereieinkommen.
Durch ein Organisationsdekret wurde das Land in 4 Kreise und 64 Oberämter
eingeteilt. An der Spitze stand jetzt neben dem Oberamtmann, früher
Vogt, der Oberamtsrichter. Die Selbstverwaltung der Gemeinden wurde
ausgedehnt, ein Stiftungsrat unter dem Vorsitz des Pfarrers und Schultheißen
eingesetzt. Vor allem aber wurden durch Vereinfachung des Gemeinderechnungswesens
und der freiwilligen Gerichtsbarkeit „dem allgemein verhaßten
Lindwurm (dem Schreibertum) die Zähne ausgebrochen". Die Stadt
und Amtsschreiber hatten das Monopol auf alles, was zu Schreiben war.
Sie hielten sich 20-30 Schreibersubjekte, die alle Kaufbriefe, Testamente
und Verträge in Stadt und Land ;u schreiben hatten. Dabei fehlte
es den Schreibern an jeder Bildung. Es konnte jeder Schreiber werden,
den ein Prinzipal annahm. Durch Sparsamkeit und Vereinfachung der Ausgaben
wurden die Steuern vermindert und doch die Abzahlung der Staatsschulden
ermöglicht. Am 9. Januar 1819 wurden der König und das ganze
Land von schwerem Leid betroffen durch den Tod der allgeliebten Landesmutter,
die ihre ganze Kraft und ihr ganzes Herz dem Dienst ihres Volkes, vor
allem den Armen und Notleidenden geweiht hatte. Zu einem aus Kornähren
geflochtenen Kranz war der Vers gefügt :
Nimm, o Verklärte, die du früh entschwunden, nicht Gold noch
Kleinod war dazu verwendet, auch nicht aus Blumen ist der Kranz gebunden
(in rauher Zeit hast du die Bahn vollendet), aus Feldesfrüchten
hab' ich ihn gewunden, wie du in Hungertagen sie gespendet, ja gleich
der Ceres Kranze flocht ich diesen, Volksmutter, Näherin, sei
mir gepriesen!
Am 7. März wurde im ganzen Land ein Trauergottesdienst
gehalten mit dem Text: „Die Liebe höret nimmer auf." Die
bleibende Ruhestätte wurde die Kapelle auf dem Rotenberg, zu der
König Wilhelm am 29. März 1820 den Grundstein legte, nachdem
er das Schlossgebäude, das ein niederer Wall, ein tiefer Graben
und drei Ringmauern umgaben, von Grund aus hatte abbrechen lassen.
Im Jahr 1816 starben hier 21 Kinder am Krampfhusten.
Die Kindersterblichkeit war fortgesetzt sehr groß; sind doch
im Jahre 1814 in einem halben Jahr allein 31 Kinder an Masern gestorben.
Aber auch unter den Hochbetagten haben die letzten Jahre besonders
aufgeräumt.[pag174]10 Gemeindeglieder im Alter von 80—85
Jahren sind heimgegangen, unter ihnen der achtzigjährige Rat,
Keller- und Amtmann Johann Friedrich von Heller. Im Jahr 1766 ist dieser
würdige und rüstige Greis der Nachfolger des Amtmanns Wolff
geworden und hat 50 Jahre lang der Gemeinde treu und fleißig
gedient. Kurz ehe ihn ein Schlaganfall wegraffte, hat er noch an der
Sitzung des Kirchenkonvents teilgenommen. Im Trauerbrief geben ihm
seine Angehörigen das Zeugnis: er lebte seinem König, seinem
Amt bis an sein Ende. Sich selbst lebte er wenig, um desto mehr den
Seinigen.
Der Landtag machte dem König ein Geburtstagsgeschenk,
indem er den Verfassungsentwurf einstimmig annahm, „der Tag,
an dem ich ihn unterzeichnen kann, wird der schönste meines Regentenlebens
sein", hatte der König gesagt. Die über Deutschland hereingebrochene
Metternichsche Reaktion und die das deutsche Volk knebelnden Karlsbader
Beschlüsse hatten den Landständen gezeigt, was eine Verfassung
wert ist, die Freiheit der Person, des Eigentums, der Presse und des
Gewissens zusichert und den Ständen Mitwirkung bei Steuererhebung
und Gesetzgebung gewährt. Am 15. April 1820 verheiratete sich
der König mit Pauline Therese Luise, der zwanzigjährigen
Tochter seines Oheims Ludwig. Als der König von Warschau zurückkehrte,
wo er vergeblich vor den Herrschern von Rußland, Österreich
und Preußen gegen die Entrechtung des deutschen Volkes protestiert
hatte, wurde er mit solcher Begeisterung empfangen, daß das Volk
die Pferde ausspannte und jubelnd den Wagen in den Schloßhof
zog, wo Behörden, Bürgerschaft und Schuljugend aufgestellt
waren und ein „Nun danket alle Gott" anstimmten.
Schon am 21. Januar 1820 hot der ehrwürdige Pädagoge
Johann Friedrich Schönlin seinen Ruhestand mit der ewigen Ruhe
vertauscht. Sein Schwiegersohn Maurer, der bisher Amtsverweser gewesen
war, wäre gerne sein Nachfolger geworden und hatte den Bürgerausschuß für
sich gewonnen. Der Gemeinderat aber hatte aus den acht Bewerbern drei
andere vorgeschlagen und vor allem den Schulleiter Schneider von Alpirsbach
der Behörde empfohlen. Er wurde denn auch am 1. Juli' bestätigt,
durfte aber erst Anfang November aufziehen. Er war auch imstande, lateinische
Privatstunden zu geben. Den Schulbesuch fand er freilich nicht in bester
Ordnung. Die bedrängten Verhältnisse, in die die Gemeinde
durch zwei harte Fehljahre gekommen war, wirkten auf den Schulbesuch
ein, und als das Jahr 1820 reichen Obstsegen brachte, nahmen die Schulversäumnisse
so zu, daß man von der Herbstvakanz 8 Tage vorausgeben mußte.
Die Industrieschule, die der Bürgerausschuß überhaupt
für überflüssig erklärt hatte, wurde 1821 auf 6
Monate vom März an eingeschränkt, und als der Winter 1821/22
sehr mild war, hörten die Feldgeschäfte und damit die Schulversäumnisse
fast gar nicht auf. Die große Not veranlaßte viele, ihre
Kinder zu einigem Verdienst anzuhalten. Man hat dann den 7 Kindern,
die kein Versäumnis haften, eine Prämie von je 3 Kreuzer
zugesprochen. Die Kriegsnöte und die Mißjahre brachten es
so weit, daß die laufenden Bedürfnisse und besonders die
Steuern aus dem Vermögen gedeckt werden mußten, weil das
Einkommen einfach nicht reichte. Nirgends war Geld, und wer Geld entlehnte,
mußte Wucherzinsen zahlen. Häuser und Grundstücke hatten
keinen Wert, und in den öffentlichen Kassen stiegen die Ausstände
ins Ungeheure. Die Viehställe leerten sich, und die Zuchthäuser
füllten sich. Auf den Straßen aber trieb sich ein Heer von
Arbeitslosen und Bettlern umher.
In dieser Notzeit hat nun der Besuch der Privatversammlungen
einen unerhörten Aufschwung genommen. Im Jahr 1816 ist die Trennung
der Geschlechter vom Konfissorium angeordnet worden. Es waren damals
je 20-30 Männer und Frauen. Bis zum Jahr 1821 stieg die Zahl auf
gegen 200: 50 Männer, 80 Weiber, 25 ledige Bursche und 35 ledige
Töchter. Die 6 Vorsteher waren: Joh. Friedr. Vollmer, Gottlieb
Friedr. Warth, Joh. David Schering, Gottfried Paule, Georg Jakob Klotz
und Gottlieb Weste. Dazu kamen 6 durch Wahl und Los beigegebene Gehilfen:
Johannes Kurtz, Moritz Zaiß, Jakob Friedr. Warth, Andreas Wahl
und Johannes Vollmer. Sie kamen am Sonntag nach der Kinderlehre und
abends, auch Donnerstag und Samstag abends zusammen und beschäftigten
sich mit Betrachtung der Bibel, mit der Sonntagspredigt und mit Liedersingen.
Der Pfarrer stand in gutem Einvernehmen mit der „Gemeinschaft",
wie sie sich nannten, und diese beschloß aus eigenem Antrieb,
das Auslaufen [pag175]in andere Kirchen, besonders nach Korntal, einzuschränken,
zumal es bei vielen nur der Neugierde diene.
Am 6. März 1823 wurde dem König ein Sohn
Karl geboren. Die Mitfreude drückten verschiedene Städte
durch Stiftungen für arme Kinder aus. Als der König sich
geweigert hatte, die Karlsbader Beschlüsse durchzuführen
und die freiheitliche Verfassung abzuändern, beriefen zuerst Österreich
und dann Preußen und Rußland ihre Gesandten ab, und der
König mußte nachgeben; aber er nahm sich vor, alles zu tun,
um seinem Sohn die Festigkeit und den Mut einzuflößen, um
das Wohl des Vaterlandes als einzigen Lebenszweck zu betrachten. Er
selbst sorgte für sein Land schon durch die Einfachheit seines
Auftretens. Sein Vater war sechs- und achtspännig gefahren mit
großem Troß. Er fuhr zweispännig und kutschierte oft
selbst. Weil er ein Gefühl hatte für die, die bisher die
schwersten Lasten getragen hatten, schaffte er die Akzise ab und führte
eine Besoldungs-» und Kapitalsteuer ein. Bei der Entlassung der
Landstände 1821 erklärte der König, daß ihm ihr
Rat und ihre patriotische Gesinnung zum großen Nutzen gewesen
sei, und dankte für die tätige Mithilfe. Der Präsident
aber sprach den Dank, die Ehrfurcht und Liebe zu dem Vater des Vaterlandes
aus. Im April 1821 wurde die Einrichtung einer Schullehrerwitwenkasse
angeordnet. Eine sehr notwendige Veranstaltung, wenn man bedenkt, daß die
Mehrzahl der Schullehrer nicht mehr als 150-250 Gulden Einkommen hatten
und die besseren Einkommen durch den Unterhalt eines Provisors geschmälert
wurden. So konnte kaum einer etwas für seine Familie zurücklegen.
Verwunderlich ist, daß trotz des wohlgeordneten Schulwesens doch
eine ganze Anzahl von Rekruten Analphabeten waren. Aber bei der Häufigkeit
der Schulversäumnisse mag es auch vorgekommen sein, daß Kinder überhaupt
nicht in die Schule kamen, namentlich in abgelegenen Orten. Und auch
hier kam es vor, daß eine Schustersfrau beim Gant ihres Mannes
ihre Namensunterschrift abschwur. Schulmeister Schönlin behauptete,
sie habe in der Schule geschrieben, sie aber sagte, ihre Schriften
haben ihre Mitschülerinnen für sie geschrieben, sie habe
nie Schreiben gelernt. Es wurde angeordnet, daß jedes Kind beim
Austritt aus der Schule eine Schrift hinterlassen müsse. Nachdem
Schulmeister Schneider einen Anfang damit gemacht hatte, wurde vom
Kirchenkonvent und Gemeinderat beschlossen, eine ordentliche Kirchenmusik
einzurichten. Das Posaunenblasen und Geigenspielen halte die jungen
Leute vom Wirtshausbesuch ab. Vom Heiligen sollte etwas ausgesetzt
werden zur Anschaffung von Instrumenten, Suiten und Noten. Auch im
Singen brachte es Schneider so weit, daß im Gottesdienst ein
mehrstimmiger Schülerchor mit der Instrumentalmusik abwechseln
konnte und der Gemeinde unbekannte Weisen vorsingen. Den Pfarrern ist
aufs strengste eingeschärft worden, daß sie sich in ihren
Predigten aller politischen Betrachtungen und Anspielungen enthalten
sollen. Dazu war allerdings Veranlassung gegeben, nachdem der König
seinen freisinnigen Bundestagsgesandten Wangenheim hatte abberufen
müssen. Es wurde dann die Pressezensur wieder eingeführt,
und eine besondere Kommission mußte demagogischen Umtrieben nachspüren,
die freiheitliche Universitätsverfassung wurde aufgehoben, und
die Burschenschaftler, die die verbotenen deutschen Farben trugen,
wurden eingesteckt. Der maßgebende Mann im Königreich war
jetzt der württembergische Metternich, der Justizminister Maucler.
Am 30. Oktober 1824 wurden um Mitternacht die Bewohner
des Ortes aus dem Schlaf aufgeschreckt durch das donnernde Brausen
des Flusses, das Sturmläuten, das von überall her erscholl,
das Brüllen des Viehs, das man aus den Ställen ziehen mußte,
und das Geschrei der vom Wasser Bedrohten. Als es Tag wurde, sah man,
daß zwischen Straße, Baumgut, Acker und Flußbett
kein Unterschied mehr war, der Strom lief von Berg zu Berg. Die Untertürkheimer
kamen noch glimpflich weg. Dem Zimmermann Neeff riß der Strom
Pferd und Wagen fort, und das Haus, in dem G. F. Tübinger und
G. J. Keefer wohnten, wurde schwer beschädigt. Dagegen hat der
tobende Strom in Cannstatt sich ein zweites Bett gegraben, daß die
Stadt vom Verkehr abgeschnitten war, und das Wasser stand an den höchsten
Plätzen noch 3 Fuß hoch. 60 - 80 Kufen mit Weinmost wurden
fortgeschwemmt. In Heilbronn stand der Pegel 10 Fuß höher
als bei der Überschwemmung des Jahres 1817. Obgleich der Herbst
recht gering und der Wein fast unverkäuflich war, wurde doch eine
Hauskollekte für die Hagel- und [pag176]Wasserbeschädigten
veranstaltet, da der Ort vom Hagel verschont geblieben und bei der Überschwemmung
besser weggekommen war als die andern Talorte, und sie ergab 84 Gulden
39 Kreuzer, mehr als man bei der gegenwärtigen Geldarmut erwartet
hätte. Im Jahr 1825 fiel im März noch einmal eine ungewöhnliche
Kälte ein, und dazu kam am 16. Mai eine Frostnacht, die einem
Drittel der Weingärtner den ganzen Ertrag vernichtete. Auch das
Obst fehlte fast ganz, und so mehrten sich die Fälle, daß bei
dem gesunkenen Wert der Güter den Bürgern vergantet wurde.
Eine Kollekte bei den vermöglicheren Bürgern wurde dazu verwendet,
Brennholz unter die ärmsten Weingärtner auszuteilen. Nachdem
der König als vornehmster Weinbergbesitzer 100 Gulden gestiftet,
auch das Dankopfer 63 Gulden ergeben hatte, standen 170 Gulden zurr
Verfügung und es wurden den Weingärtnern 1/5 oder 1/10 Meß,
den gewöhnlichen Hausarmen 10—12 Scheiter ausgeteilt. Das
war sehr angelegt; denn im Januar trat so strenge Kälte ein, daß bis
zum 2. Februar die Betstunde wegen Kälte ausgesetzt werden mußte.
Im Jahr 1828 gab es endlich einmal wieder einen guten Herbst. Im Jahr
1827 hatte es viel Wein gegeben, vom Viertel beinahe 21/2 Eimer, aber
es war ein ziemlich saures Gewächs. Im folgenden Jahr aber trugen
die Weinberge 4 Eimer vom Viertel, und zwar sehr guten Wein. Um die
Verbesserung unseres Weines hatte sich der König bemüht,
indem er seit 1822 Rieslingreben anpflanzen ließ, die in dem
schlechten Jahr 1824 immerhin 1 Eimer vom Viertel trugen und einen
Wein gaben, der mit 73, das Jahr vorher mit 80—90 Gulden bezahlt
wurde. Mit diesem Riesling veredelt, sollte unser Wein seinen alten
Ruhm wiedererlangen. Als im Winter 1828/29 sehr strenge Kälte
eintraf, stieg die Zahl der Bedürftigen trotz dem guten Herbst.
1825 wurde das herrschaftliche Fruchtgratial an 68 Bedürftige
ausgeteilt, 1827 schon an 97 und im Winter 1828/29 vollends an 119.
Es wurden 4 Meß Tannenholz verteilt; aber was war das unter so
viele? Es war ja auch bei den Geldunterstützungen so, daß einer
Witwe wegen Krankheit statt 30 Kreuzer 1 Gulden, also 2 Kreuzer für
den Tag gereicht, einem Ehepaar wegen großer Armut und Gebrechlichkeit
auf 48 Kreuzer für den Monat aufgebessert wurde.
Im Jahr 1828 fand einmal wieder eine Hebammenwahl
statt, nicht durch den Kirchenkonvent, sondern durch alle Ehefrauen
unter 45 Jahren. Es wurden an Stelle der Verstorbenen 2 gewählt,
so daß der Ort mit über 2000 Seelen 3 Hebammen bekam, da
ja auf 1000 Seelen eine kommen sollte. Sie wurden dann zur Ausbildung
in die Hebammenschule des Katharinenspitals geschickt. Am 21. April
1830 wurde der erweiterte Friedhof mit der Beerdigung der neunzigjährigen
Anna Elisabeth Doh geb. Schwarz eingeweiht. Die Kapelle von St. Wendelin
war seinerzeit um 304 Gulden verkauft worden, nur ein Gewölbe,
in dem Tragbahren untergebracht wurden, blieb in Benützung. Amtmann
Brodbeck und die bürgerlichen Kollegien bestritten, daß diese
Kaufsumme zum Grundstock des Heiligen gehöre. Die Gemeinde zahlte
nun den Platz mit 305 Gulden, und der Heilige mußte die Ummauerung
mit 684 Gulden leisten, der Stiftungsrat hätte einen Teil der
Kosten übernommen, aber der Bürgerausschuß war einstimmig
dagegen. Durch die Erweiterung wurde der Kirchhof von etwa 20 a auf
1 Morgen 1 Achtel, also etwa 40 a vergrößert. Der Winter
1829/30 war noch strenger als der vorhergehende. 14 Wochen dauerte
die Kälte, die bis zu 23 Grad stieg, mit wenigen Tagen Tauwasser
bis Anfang März. Es wurden in diesem Winter 18 Meß Tannenholz
ausgeteilt, das Meß zu 12 Gulden, in Portionen von je 5 Scheitern,
180 auf 1 Meß. Das Jahr der französischen Julirevolution
1830 brachte auch bei uns allerlei Erregung, Spannung und Unzufriedenheit,
besonders infolge der Unterdrückung freier Meinungsäußerung
durch die Pressezensur. Auch in kirchlichen Kreisen regte sich der
Wunsch nach einer freien, selbständigen Kirchenvertretung in einer
Synode, auch wurde eine Gesamftingabe um die in der Verfassung verheißene
Ausscheidung des Kirchenguts geplant. Aber ein „auf besonderen
Befehl" ergangener Konsistorialerlaß gestand der Geistlichkeit
als solcher keineswegs die Befugnis zu, in dieser Angelegenheit, die
sie nicht mehr angehe als alle anderen, mit einer Kollektiveingabe
von Amts wegen aufzutreten. Die untergeordneten Kirchendiener seien
keineswegs zur Vertretung der Kirche, sondern allein zur Befolgung
der von der Kirchengewalt ausgehenden [pag177 ] Anordnungen berufen.
Am 27. Juni wurde das dreihundertjährige
Gedächtnis des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses gefeiert.
Am Morgen zog der Schulmeister mit den Kindern und der Kirchenmusik
auf den Berg, und von dort sangen sie unter Posaunenbegleitung ihre
Lieder.
Die Kirche wurde auf das Jubelfest frisch geweißnet und
mit dem neuen amarantroten Gedeck, das der Stiftungsrat angeschafft
hatte, geschmückt. Mit dem Gottesdienst war die Feier des Abendmahls
verbunden. Die Scharwache war besonders instruiert, für Ruhe und
Stille an dem Festtag zu sorgen. Vorbereitet war das Fest durch Vorträge
am Sonntagnachmittag zu näherer Erklärung der Augsburgischen
Konfession.
Der Herbst des Jahres 1830 brachte wenig, aber ziemlich
guten Wein und einen besonders reichen Obstsegen. Bei der Einweihung
des Landhauses Rosenstein lud der König etwa tausend Gäste
aus allen Ständen ein. Durch die Vollendung der Soleleitung von
Wilhelmsglück bis Hall ist nun Württemberg vollends ein an
Salz reiches Land geworden, das Salz ausführen kann. Im November
1831 wurden die Gemüter geängstigt durch die drohende Cholera,
zu deren Bekämpfung auf Befehl der Regierung eine Kommission eingesetzt
wurde. Doch mußte dieselbe glücklicherweise nicht in Tätigkeit
treten. Eine größere Aufregung brachte die Landtagswahl,
die vom 15. bis 19. Dezember vorgenommen wurde. Verfassungswidrig war
nicht bloß die Zensur, die von den anderen Mächten erzwungen
worden war, sondern auch das Verbot der konstitutionellen Vereine und
die Anordnung der Wahltermine, die so getroffen war, daß die
.Regierung ihre Kandidaten, wenn sie in dem einen Bezirk durchfielen,
in einem anderen zur Wahl stellen konnte. Als der Landtag gewählt
war, wurde er nicht einberufen. Das führte zu der Boller Versammlung
im April, deren Erklärung von der Zensur gestrichen wurde. Seit
1824 war die Zensur auf alle Tagblätter und Zeitschriften ausgedehnt,
und der Hochwächter (später Beobachter) bot einen seltsamen
Anblick, wenn bald ganze Seiten leer, bald ein Artikel mit größeren
oder kleineren Zensurlücken durchsetzt war. Die Fesselung der
Presse, die der Minister wunderbarerweise bestritt, mehrte natürlich
die Erregung der Gemüter, und auf dem Hambacher Fest am 27. Mai
1832 kam es zu republikanischen Kundgebungen. Zu solchen aufrührerischen
Reden trug die Not der Zeit nicht wenig bei. Die Industrie hatte zwar
nicht wenig zugenommen. In Stuttgart mit seinen 35 000 Einwohnern arbeiteten
in 17 Fabriken etwa 600 Leute, in Cannstatt in 8 Fabriken 460, und
in Eßlingen gab es 7 mit 640 Arbeitern. Aber wenn auch von Untertürkheim
der eine oder andere hier Verdienst fand, so war doch der Haupterwerb
die Landwirtschaft. War doch auch die Residenz noch so ländlich,
daß viele kleine [pag178]Häuser mit Kolben türkischen
Korns (Welschkorn) umhängt waren, und im Herbst duftete die ganze
Stadt nach Wein oder Apfelmost. Als im Frühjahr die Getreidepreise
auf eine unerhörte Höhe stiegen und die vorjährigen
Kartoffeln nicht mehr recht genießbar waren, suchte man durch
kleine Geldanleihen, durch Arbeiten an der Straße und sonst zu
helfen; aber endlich mußte man doch beschließen, schon
um dem Hausbettel der Kinder wehren zu können, jede Woche Brot
und Kochgeräte, die man wegen der Choleragefahr angeschafft hatte,
auszuteilen. Mit dem Monat Juni war Pfarrer Pfister, der es zum Prälaten
gebracht hat, abgezogen, und in einer Sitzung, die Pfarrverweser Pfähler
am 26. hielt, meldeten sich 136 Unterstützungsbedürftige,
die dann wöchentlich 2 Pfund Brot auf den Kopf erhielten, ebenso
ein Quantum Kochgeräte. Bis zum 2. August wurde diese Austeilung
fortgesetzt, inzwischen war am 12. Juli die Gemeinde in Schrecken und
Betrübnis versetzt durch den Tod des Pfarrverwesers, der mit einem
Freund beim Baden im Neckar ertrank. Ende Juli traf Pfarrverweser Bühler
an seine Stelle, nachdem am 29. Prälat Pfister seine Abschiedspredigt
gehalten hatte. Pfarrer Pfister ist es gewesen, der vor seinen Studierstubenfenstern,
wo früher die Besoldungsreisachbüschel aufgehäuft gelegen
waren, ein hübsches Gärtchen (die Terrasse) angelegt hat,
das dem mit Maulbeer- und anderen fruchtbaren Bäumen bepflanzten
Kirchplatz einen freundlichen Abschluß gab. Sein Vorgänger,
Pfarrer Busch, hatte an der Mauer der Terrasse eine Kammerz angelegt.
Im Jahr 1833 starb der Sohn des verdienten Schulmeisters Schneider
am Scharlachfieber. Er hatte 4 Jahre lang seine Klasse, die mehr als
100 Schüler zählte, zu voller Zufriedenheit unterrichtet,
auch sich um einen taubstummen Schüler treulich angenommen. Die
Schule war überhaupt in diesen Jahren in gutem Zustand. Einmal
heißt es: „Die Schüler sind aufgeweckt, lernbegierig,
ehrliebend und anständig in ihrem Äußeren. Es herrscht
durchgehends Ordnung. Die Schüler halten einander selbst in Aufsicht.
Die Oberklasse hat viererlei Schreibhefte zum Schön- und Diktiersschreiben,
Aufsatz und Predigt nachschreiben. Religionsfragen werden von den Ältesten
auch schriftlich gut beantwortet. Sorge für Zurückgebliebene
ist nicht mehr so nötig wie früher." Ein andermal: „Es
wird fertig, schön und richtig gelesen, die Handschriften sind
bis weit hinab eigentliche Schönschriften mit festen, reinen und
regelmäßigen Formen. Der vierstimmige Gesang läßt
sich mit Vergnügen hören." Der Sängerchor der Schüler,
durch ältere Personen erweitert, übte Dienstag und Freitag
abend und eröffnete an Sonn- und Feiertagen den Gottesdienst.
An Festtagen kam noch die früher übliche Instrumentalmusik
dazu, und die Posaunen begleiteten jeden Sonntag den Gemeindegesang.
Bei den Schulvisitationen wurden Geldprämien ausgeteilt, und die
schreibenden Schüler bekamen zwei Bogen Papier und zwei Federkiele.
Als am 15. Januar 1833 der Landtag endlich eröffnet
wurde, erschien der König nicht, weil er nicht wollte, daß Paul
Pfizer, der für die Führung Preußens unter Ausschluß von Österreich
eingetreten war, den Eid in seine Hand ablege. Pfizer brachte dann
eine Motion ein. „Statt der Preßfreiheit haben wir Zensur,
statt freier Volksbewegung Verbot der Vereine, ja der Sitten." Vor
Beratung derselben erschien eine Königliche Erklärung, die
verlangte, daß die .Motion mit „verdientem Unwillen verworfen" werde.
Die Kammer aber nahm mit 53 gegen J1 Stimmen eine Adresse Uhlands,
des Abgeordneten von Stuttgart, an, die sich dagegen verwahrte, daß in
den Gang der Verhandlungen eingegriffen und sogar noch eine bestimmte
Gemütsstimmung angesonnen werde. Nun wurde der „vergebliche
Landtag" aufgelöst. Vom 22. Mrz bis 12. Mai hat die Zensur dem „Beobachter" zwölfmal
ganze Artikel gestrichen. Ein Konsistorialerlaß verbot den Geistlichen,
besonders den Vikaren, jede Einmischung in die Wahlangelegenheiten
aufs ernstlichste. Die Wahl geschah durch Wahlmänner, die zu zwei
Dritteln von den Höchstbesteuerten, zu einem Drittel von den übrigen
Steuerpflichtigen gewählt wurden. Die Abstimmung geschah durch
Wahlzettel mit der Unterschrift des Wählers. Am 21. Mai wurde
der neugewählte Landtag eröffnet. Uhland hatte, weil ihm
der Urlaub verweigert wurde, seinen Abschied aus dem Staatsdienst genommen,
der ihm „sehr gerne" erteilt wurde. Auch der neue Landtag nahm
mit 64 gegen 27 Stimmen den Antrag auf Aufhebung der Zensur an. Auch
die mit Nein Stimmenden wollten nicht Anwälte der verhaßten
Knebelung [pag179der Presse sein. Die Demokraten fanden, bei dieser
Abstimmung habe der Zeitgeist Wunder getan. Einen Erfolg hatte sic
freilich nicht. In diese unerfreulichen Händel trat als erfreulicher
Lichtblick und Vorbote einer besseren Zukunft der Abschluß des
Deutschen Zollvereins, der mit 64 gegen 22 Stimmen beschlossen wurde.
Man fürchtete, daß „unser Vaterland mit den auf Not
und Elend der untersten Klassen gebauten Industrien verwickelt" werde;
aber der Anschluß war zum „unvermeidlichen Schicksal" geworden.
Und es war ein großer Augenblick, als mit dem letzten Glockenschlag
des Jahres 1833 sich die Schlagbäume hoben, die Rosse anzogen
und es unter Jubelruf und Peitschenknallen vorwärts ging durch
die von Maut und Zoll befreiten Lande. Zwei Gesuche um Genehmigung
einer Apotheke in Untertürkheim von dem Stuttgarter Pharmazeuten
Eduard Ludwig und von dem Pharmazeuten Rudolf Brodbeck aus Untertürkheim
beschied das Ministerium abschlägig.
Am 17. August 1834 hielt Pfarrer Magister Johan August
Schmid seine Antrittspredigt. Er richtete alsbald seine Bemühungen
darauf, dem überhandnehmenden nächtlichen Unfug ein Ende
zu machen, und den Besuch der Kinderlehre und Sonntagsschule wieder
in Ordnung zu bringen. Der ungewöhnlich gute Herbst des Jahres
1834, da es sehr viel sehr guten Wein gab, mag dazu beigetragen haben,
daß die Jugend etwas wilder war; wenigstens wurde die Martinivisitation
erst am 4. Dezember gehalten, weil man den durch die Herbstfreuden
zerstreuten Schülern Zeit lassen mußte, sich zu sammeln
und ins alte Geleise zu kommen. Die Klasse des Schulmeisters Schneider
hat das Lob, daß fertig und mit Ausdruck gelesen und gewandt
gerechnet wird. Für den Religionsunterricht zeigten die meisten
Kinder viel Interesse, das religiöse Gefühl war vom Lehrer
geweckt, und die Freude um Schulbesuch zeigte sich an der geringen
Zahl der Schulversäumnisse. Die im Jahr 1818 eingeführte
Industrie- und Arbeitsschule hatte schon 1821 wieder aufgehört.
1823 wurde sie wieder eröffnet, nachdem 50 Mädchen sich dazu
gemeldet hatten. Es wurden zwei hiesige Lehrerinnen dafür gewonnen.
1835 wurde die Strick- und Nähschule fast gar nicht mehr besucht,
und erst auf eine Mahnung der Zentralleitung hin wurde der Witwe Neef,
die zum Unterricht, namentlich im Nähen, nicht recht fähig
war, April 1836 eine tüchtige Kraft in der Tochter des Gesundheitsgeschirrfabrikanten
Gastegger beigegeben. Am 29. September 1836 wurde das neue Schulgesetz
veröffentlicht. Als bei der Beratung desselben der Antrag Deffners,
die Sonntagsschulpflicht der Mädchen auf das sechzehnte Jahr herabzusetzen,
43 Stimmen bekam, erschien ein Gedicht:
Die 43 sollen leben, die ihre Stimme uns gegeben,
ihr Name glänzet frisch und grün, solange Schwabenmädchen
blühn.
Bei Buben lass ich mir's gefallen, wenn sie bis zum 18ten Jahr noch
in die Sonntagsschule wollen, denn diesen schadet es kein Haar.
Sie reifen später, und auf Ehre! käm' mancher nicht in unsre
Lehre, er bliebe tölpelhaft und stumm und wohl auch gar sein Lebtag
dumm.
Durch das neue Gesetz wurden die Schullehrergehälter
immer noch nicht auf die Höhe niederer Staatsbeamter gebracht.
Bei größeren Orten betrug das Gehalt 350, bei 2000-4000
Seelen 300, bei 60 und weniger Schulkindern 200 Gulden. Der Unterlehrer
bekam 150 Gulden. Als Höchstzahl der Schüler einer Klasse
wurde 90 festgesetzt. Infolge davon sollte unsere Gemeinde eine vierte
Lehrerstelle errichten und dann auch ein viertes Schulzimmer erstellen.
Die Gemeinde kam nun darum ein, daß ihr ein Termin bis 1. April
1839 verwilligt werde, da sie erst 1817 für den Schulhausbau einen
Aufwand von 7000 Gulden gemacht habe. Daß auch in unserem Weingärtnerort
Industrie und Gewerbe sich allmählich ausbreiteten, beweist der
Geschirrfabrikant Gastegger und der Optiker Berner, der so viel Arbeit
hatte, daß er seine fünf neukonfirmierten Lehrlinge, Beurer,
Uhl, Zwicker, Hammer, Hahn, auch am Sonntag arbeiten ließ; er
versprach aber dem Kirchenkonvent, es nicht mehr zu tun und die Buben
auch in die Freitagskinderlehre zu schicken, für die sie im ersten
Jahr nach der Konfirmation verpflichtet waren. Im Dezember 1836 beschloß der
Wohltätigkeitsverein, bei Eintritt strenger Kälte [pag180]
3 Teppiche und 17 Paar Strümpfe an Bedürftige auszuteilen.
Da die Cholera wieder drohte, wurden 5 männliche und 6 weibliche
Krankenpfleger unterschriftlich verpflichtet und eine Cholerakommission
gewählt, bestehend aus Pfarrer Schmid, Dr. Stimmel, Amtmann Brodbeck
und den Bürgern Wünsch, Hammer, Kloz, Diener, Warth, Münzenmayer,
Vollmer, Steinle und Weste. In Berlin hat die Cholera 1837 in 2 Monaten über
2000 Menschen hingerafft. Auch wurde 1837 eine Liste von 12 Knaben
und Mädchen aufgestellt, denen, wenn ihre Eltern nicht dafür
sorgen, zu einem ordentlichen Gewerbe oder Dient geholfen werden sollte.
Als der neue König von Hannover die Verfassung
seines Landes einfach aufhob und 7 Professoren der Universität
Göttingen mit Entziehung des Gehaltes entließ, weil sie
ihm den Eid verweigerten, gab es große Aufregung in ganz Deutschland.
Die Elbinger sprachen ihrem Landsmann, Professor Albrecht, ihre Teilnahme
aus, wurden aber vom preußischen Minister Rochow angefahren:
Dem Untertanen ziemt es nicht, an die Handlung des Staatsoberhauptes
den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen (daher
der „beschränkte Untertanenverstand"). Der Bundestag, in
dem Österreich und Preußen maßgebend waren, wagte
nicht, gegen den Rechtsbruch aufzutreten, dagegen stellte König
Wilhelm einen der Entlassenen, Ewald, in Tübingen an. Später
stellte der Hannoveraner den König einmal zur Rede: „Warum
haben Sie den Professor angestellt, den ich fortgejagt habe?" „Eben
deswegen", war die lakonische Antwort. Die württembergische Kammer
nahm mit 82 gegen 2 Stimmen eine Erklärung an, daß durch
den Rechtsbruch des Königs erst August der Rechtszustand in ganz
Deutschland gefährdet sei. Zu gleicher Zeit hat der Herzog von
Koburg das monarchische Prinzip gefährdet durch 15 Millionen Sechser,
mit denen er nicht bloß seine Untertanen, sondern ganz Deutschland
betrog, und die durch den deutschen Münzvertrag abgeschätzt
werden mußten. Als am 8. Januar 1838 die Untertürkheimer
Stiftungsratskasse gestürzt wurde, fanden sich an abgeschätztem
Geld 26 Sechser und 30 Groschen vor, die mit einem Verlust von 1 Gulden
28 Kreuzer eingewechselt werden mußten. Der damalige hiesige
Arzt Dr. Stimmel brachte die "Bitte um Konzessionierung einer Apotheke
in Untertürkheim sowohl 1838 als auch wieder 1839 vor.
Anfang 1838 traf ein außerordentlicher Landtag
zusammen, um über die Strafgesetzgebung zu beraten. Minister Schlayer
eröffnete ihn mit einer Rede an die durchlauchtigsten, durchlauchten,
erlauchten, hochgeborenen, hochwohlgeborenen, hochwürdigen, hochzuverehrenden
Mitglieder. Mit 50 gegen 33 Stimmen wurde die Öffentlichkeit des
Strafverfahrens abgelehnt, die Todesstrafe und die körperliche
Züchtigung (nun nicht mehr als 50 [fünfzig!] Streiche) beibehalten.
Die Strafen sollten nicht erziehen, sondern abschrecken. Schott, Pfizer,
Uhland und Römer erklärten, daß sie keine Wahl mehr
annehmen. Der neugewählte Landtag enthielt dann fast lauter Staats-
und Gemeindebeamte und 20 Schultheißen.
Nachdem die Schonfrist für Errichtung einer vierten
Schulstelle 1839 abgelaufen war, kamen die bürgerlichen Kollegien
darum ein, daß der einfache Abteilungsunterricht eingeführt
werden dürfe, da ja die Schülerzahl nur um 13 mehr als dreimal
90 betrage. Im Jahr 1840 wurde Joh. Michael Rümelin als Polizeidiener
mit einem Gehalt von 36 Gulden angestellt. Er war ein hiesiger Bürgersohn
und hatte im griechischen Heer gedient. Mit 40 Jahren war er krank
und abgerissen in die Heimat zurückgekehrt. Im Armenbaus behagte
es ihm aber nicht sehr, und so suchte er als gelernter Schreiner Arbeit
in der Schweiz, kehrte aber 1838 zurück und wurde im Armenhaus
verköstigt und zu leichten Arbeiten angehalten. Er machte sich
aber wieder auf die Wanderschaft, bis er von Tusslingen im Schub zurückgebracht
wurde. Da er bei Metzger Stierlen um 8 Kreuzer täglich, also 48
Gulden jährlich, in Kost gegeben worden war, wurden ihm zu seinem
Gehalt noch 12 Gulden Unterstützung zugelegt. Nach 2 Jahren mußte
er den Dienst aufgeben und ist 1843 gestorben. Bei ihm hat's wirklich
geheißen: „Was ist mein ganzes Leben von meiner Jugend
an als Müh' und Not gewesen !" er hat im Jahr 1840 den Umzug aus
dem alten ins neue .Rathaus mitgemacht. 1840 wurde endlich die Genehmigung
zur Errichtung einer Apotheke für Untertürkheim erteilt.
Ins alte Amtshaus kam die Apotheke, die bisher im Außendorf gewesen
war, und die Metzger, die im Erdgeschoß ihre Läden hatten,
mußten weichen.
[pag181]Das ganz unmotivierte Kriegsgeschrei der Franzosen,
dieser ewigen Unruhestifter Europas, hat die Gemüter in diesem
Jahr sehr erregt. Und als die alte freche Forderung der Rheingrenze
wieder laut wurde, erwachte in Deutschland die Vaterlandsliebe, und
mit Begeisterung sang man : „ Sie sollen ihn nicht haben, den
freien deutschen Rhein, ob sie rote gierige Raben sich heiser darnach
schrei'n."
Am 28. September 1841, seinem sechzigsten Geburtstag,
wurde das fünfundzwanzigste Regierungsjubiläum des Königs
gefeiert. Unter Kanonendonner und Glockengeläute bewegte sich
ein Festzug von mehr als 10 000 Teilnehmern durch die festlich geschmückte
Stadt. Auf einem rotsamtenen goldverzierten Kissen wurde von Stadträten
der drei Städte Stuttgart, Tübingen und Ludwigsburg die Urschrift
der Verfassungsurkunde getragen. 23 Wagen führten die verschiedenen
Berufsarten und Erwerbszweige vor. Ein Wagen, auf dem auch Untertürkheimer
waren, zeigte die Weingärtner mit Keltern beschäftigt.
Die
Stuttgarter Weingärtnersöhne marschierten einher, mit Grashalmen
Musik machend. „Sie walleten höchst vergnüglich einher
in ihrem Teil und blättelten ganz vorzüglich: „Heil
unsrem König, Heil!" Den Schluß des Zugs bildete ein „Nun
danket alle Gott", von der ganzen Menge gesungen. Am Abend wurde auf
der Prag ein Feuerwerk angezündet, und rings auf den Höhen
durchs ganze Land hin flammten die Freudenfeuer auf. Eine kirchliche
Feier fand am 31. Oktober, dem Tag seines Regierungsantritts, statt, über
Psalm 85, 110 f., wo davon die Rede ist, daß „Güte
und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen".
Bei der Weinlese des Jahres wurde an dem armen Weingärtner Gottlieb
Beck ein Bubenstück verübt, indem der Zapfen aus seiner Bütte
gezogen wurde, so daß der ganze Herbstseegen, etwa 2 1/2 Eimer,
auslief. Auf einen Aufruf, den Pfarrer Schmid zu den Beobachter rückte,
kamen 45 Gulden zusammen, und es konnten wenigstens die dringendsten
Ausgaben gedeckt werden. Beck starb bald darauf an einer Lungenentzündung.
Durch die Liebesgaben wurde sein Glaube an die väterliche Fürsorge
Gottes gestärkt und ihm das Sterben erleichtert.
Anfang Februar 1842 wurde das neue Gesangbuch, das
an die Stelle des rationalistischen von 1791 treten sollte, vom König
genehmigt. Schon 1838 war der Entwurf ausgearbeitet worden. Wohl hieß es
bei den Pietistengegnern, man habe „die rationalistischen Flächen
mit mystischen Pflanzen ausgesetzt und mit altertümlichen Floskeln
verbrämt", aber doch mußte jedermann zugestehen : evangelischer
im ganzen ist das neue Gesangbuch ausgefallen. Am Adventfest wurde
es feierlich in Gebrauch genommen und mittags eine Kinderlehre über
ein Lied aus denselben gehalten. Die Bekanntmachungen nach dem Gottesdienst
vor der Kirche am Rathaus, die schon lange ein Ärgernis gewesen
waren, wurden wenigstens auf allgemeine Vorschriften beschränkt;
Verkäufe, Steuern, Gante u. dgl. sollten im „Intelligenzblatt" angezeigt
werden. Die alte Linde muß gefällt [pag182]Ein Erlaß des
gemeinschaftlichen Oberamts ordnete die Abschaffung des Bettels auf
den Straßen und in den Häusern an. Es wurde nun beschlossen,
daß je zwei Mitglieder des Gemeinderats und des Bürgerausschusses
von Haus zu Haus aufzeichnen sollen, was jeder statt der bisher gereichten
Almosen an freiwilliger Armensteuer zu geben bereit sei. 173 Gulden
24 Kreuzer kamen so fürs Jahr zusammen, und 14 Familien, bei denen
man namentlich dem Kinderbettel wehren wollte, bekamen nun wöchentlich
4 Pfund Brot oder 3 Pfund Mehl auf den Kopf.
Am 2. Januar 1843 wurde der tüchtige und erfolgreiche
Schullehrer Schneider zu Grab getragen. Sein Nachfolger Koch trat erst
auf Martini seine Stelle an. Aus Anlaß des Todes des Totengräbers
und Kalkanten (Orgeltreters) Firnhaber wurden die Ämter geteilt
und Christoph Schönhaar, Bürger, Weingärtner und Veteran,
aus 15 Bewerbern zum Totengräber, Christian Hummel, Bürger
und Schuhmacher, aus 5 Bewerbern zum Orgeltreter gewählt. Die
Stelle der verstorbenen Leichensägerin Höschle wurde aus
12 Bewerberinnen Christ. Magd. Schwarz zugeteilt. Als im Juni die drei
unständigen Lehrer mit ihren Klassen einen Spaziergang in die
Eßlinger Berge machen wollten und dazu einen Beitrag aus dem
Schulfonds erbaten, hielt der Kirchenkonvent es nicht für erlaubt,
bei der gegenwärtigen teuren Zeit die Eltern zu Ausgaben zu veranlassen.
Dagegen beschloß der Stiftungsrat, ein weiteres Lehrerzimmer
und ein Wohnzimmer für einen zweiten Unterlehrer zu erbauen.
Schon im Jahr 1835, da die erste Eisenbahn von Nürnberg
nach Fürth eröffnet wurde, erging eine Aufforderung zum Bau
einer Eisenbahn von Stuttgart nach Cannstatt. Es wurde eine Aktiengesellschaft
gegründet. Der Plan, eine Bahn über Ulm nach Friedrichshafen
zu bauen, wurde freilich als Hirngespinst bezeichnet: Über die
Alb müßte die Linie ja in schwindelnder Höhe an Felswänden
hin gleichsam durch die Luft gezogen werden; eine Remstalbahn würde
physikalische, nationalökonomische und politische Vorteile bieten.
Der Eisenbahnbau wurde das Losungswort der Zeit. Der Landtag wählte
eine Eisenbahnkommission, und endlich 1843 wurde mit 48 gegen 26 Stimmen
der Eisenbahnbau beschlossen. Unser Landsmann List, der schon 1833
ein deutsches Eisenbahnsystem ausgedacht hatte, versicherte, daß dasselbe
nicht bloß sich verzinsen, sondern auch die Mittel zur Herstellung
eines Kanalsystems liefern werde. Es wurde nun zunächst die Strecke
Cannstatt-Untertürkheim gebaut und am 5. Oktober 1845 die erste
Probefahrt gemacht mit der Lokomotive „Neckar", zur Rückfahrt
benützte man die Lokomotive „Fils". Eine unabsehbare Menschenmenge
war längs der Bahnlinie versammelt, und auch die auf dem Felde
Arbeitenden eilten herbei, um das unheimliche Ungetüm, das ohne
Pferde den Zug so rasch vorwärts brachte, zu sehen. Am 22. Oktober
begannen die regelmäßigen Fahrten, und im November konnte
man schon bis Eßlingen fahren; aber im Dezember wurde auch schon
das Gefährliche des neuen Verkehrsmittels offenbar. Beim nächsten Übergang
nach Untertürkheim fuhr ein Steinwagen trotz Warnung des Bahnwärters über
das Geleise. Der Wagen wurde zerschmettert, der Fuhrmann Diener und
die Pferde blieben unversehrt, und die Fahrgäste kamen mit dem
Schrecken und einem Puff davon. Schlimmer ging es dem Nachtwächter
Joh. David Munk. Er fuhr auf der Landstraße neben den Bahngeleisen
her auf einem von einer Kuh gezogenen Pflug. Hinter ihm her kam ein
mit zwei Rappen bespannter Wagen. Als der Zug vorbeifuhr, wurden die
Pferde scheu, das eine bäumte sich und traf den Bauern so unglücklich,
daß er an den Wunden starb. Als weitere Errungenschaft der Neuzeit
wurde im November in Stuttgart die Gasbeleuchtung eingeführt mit
450 Laternen. Als sie zum erstenmal angezündet wurden, waren Hunderte
von Zuschauern auf den Straßen, und eine große Schar Kinder
folgte mit Freudengeschrei dem Anzünder von Laterne zu Laterne.
Hatten sich die Untertürkheimer für diese
Neuerungen sehr interessiert, so haben sie weniger teilgenommen an
der Aufregung, die Professor Vischer in Tübingen hervorrief. Er
hatte in seiner Einstandsrede 1844 pantheistische Wendungen gebraucht,
und vier Stuttgarter Pfarrer hielten nun Predigten gegen seine Ketzereien
und ließen dieselben drucken. Es wurde ihm dann das Halten von
Vorlesungen verboten. Außer Vischer wurde auch noch Professor
Robert von Mohl kaltgestellt, weil er der Regierung unbequem war. Gegen
200 Studenten machten eine Demonstration, weil ihnen in einem Jahr
zwei ihrer berühmtesten Lehrer entrissen worden [pag183]waren.
Erregung und Begeisterung weckte in Stuttgart und anderen Städten
das Auftreten des deutschkatholischen Priesters Ronge, das durch die
Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier veranlaßt war. Unter
ungeheurer Beteiligung wurde ein Kongreß der Deutschkatholiken
auf der Silberburg gehalten. Freiheit der Religion, Freiheit des Glaubens,
Freiheit des Gewissens war die Losung bei der nach Freiheit verlangenden
Menge. Etwas Dauerhafteres als der Deutschkatholizismus war der Gustav=Adolf=Verein,
der im September seine Hauptversammlung in Stuttgart hielt. „Im
Namen Jesu dran, ans Werk der Einigkeit! Hinaus, wo Brüder uns
in Drang und Not erwarten!" Zwei Männer haben damals die Aufmerksamkeit
der Christen in unserem Lande besonders auf sich abzogen. Pfarrer Blumhardt
in Möttlingen, der durch die urchristliche Gabe der Krankenheilung
einen ungeheuren Zulauf gewann, und Gustav Werner, der den kühnen
Gedanken faßte, die Industrie zu verchristlichen, und in seinen
Häusern und Fabriken einen christlichen Kommunismus erstrebte,
da alles arbeitete für die gemeinschaftlichen Zwecke des Hauses,
verbunden durch die Liebe Jesu Christi. Im „Beobachter" hieß es:
Das Symbol der neuen Zeit muß die Liebe sein, sie ist nicht das
konservativste, sondern das revolutionärste Ding der Welt.
Das Jahr 1845 hatte nach einem harten Winter mit über
19 Grad Kälte einen heißen Sommer gebracht, weil aber der
Regen zur rechten Zeit fehlte, gab es zum drittenmal einen geringen
Herbst. Von da an kam bis 1849 ein guter Herbst um den andern. Hatte
man 1844 8 Eimer vom Hektar bekommen, so waren es 1848 fünfmal
mehr. Trotz dem heißen Sommer trat aber die Kartoffelkrankheit
heftig auf, und die Felder lagen voll mit schlechten Kartoffeln, aus
denen man immerhin noch hätte Stärke machen können.
So redete man im Jahr 1846 nicht mehr von Freiheit, sondern vom Brotpreis.
Mostbrocken und Leirenwein waren bei den armen Weingärtnern das
einzige Labsal. Die Handwerker aber hatten keine Arbeit. Wie groß die
Not war, zeigt die Zahl der Gantprozesse. 1835 waren es im ganzen Land
727, 1845/46 2397. Als der Büttel in Stuttgart ausschellte, daß jetzt
der Brotlaib statt 27 Kreuzer 26 koste, zogen die Kinder jubelnd hinter
ihm her: "Jetzt kriegen wir bald wieder satt Brot zu essen !" Nach
der Erinnerung einer hiesigen Frau habe die Mutter bei der Mesnerin
Geld entlehnt, um Brot zu kaufen, und es mit Milch von ihrem Kühle
heimgezahlt. Auch der Bürgermeister habe Ölmehl in der Mühle
holen lassen, um das Brot damit zu strecken. Alle Tage habe man Reis
gekocht. Der Vater habe die früh reifende Wintergerste gesät,
die habe man dann gleich zu Brot vermahlen.
Der Eisenbahnbau ist im Jahr 1846 fortgeschritten.
Der Pragtunnel und der Rosensteintunnel, der große Schwierigkeiten
gemacht hatte, wurden fertig und die Strecke mit einem großen
Eisenbahnfest eingeweiht. Der Fahrplan wurde dann freilich so ungeschickt
entworfen, daß ein Eßlinger vor 10-11 Uhr nicht in Ludwigsburg
sein konnte und ein Cannstatter zu Fuß so schnell nach Ludwigsburg
kam wie mit der Bahn. Die Zahl der Beschwerden erreichte beinahe die über
die Thurn=und=Taxische Post. Ein Brief von Plochingen nach Obertürkheim
mußte nach Reichenbach geschickt werden, von da kam er über
Eßlingen nach Cannstatt und von dort durch Amtsboten nach Obertürkheim.
Bahn und Post haben sich damals offenbar noch nicht gekannt und zusammengeholfen.
Im November konnte man von Bietigheim bis Süßen fahren,
während au der Geislinger Steige die Felsen gesprengt wurden.
Dem Eisenbahnbau ist der größere Teil des Pfarrgartens,
der bis zum Neckar hinunterging, zum Opfer gefallen. Weil man nun das
Wasser nicht mehr am Neckar holen konnte, hat man von dem Erlös
einen Brunnen gegraben um 127 Gulden, die übrigen 400 Gulden
sollten mit 4 v. H. verzinst werden, bis ein anderes Stück gekauft
werden könnte, was freilich nicht geschehen ist. Im September
hielt Kronprinz Karl mit seiner Gemahlin Olga, der Tochter des Zaren
Nikolaus, seinen Einzug in Stuttgart. Seine Wohnung nahm er im Rosenstein,
bis die Villa Berg fertig war. Im August trat hier an die Stelle des
Amtmanns Brodbeck Schultheiß Mäulen. In unserer Schule,
die seit 1844 vierklassig geworden war, arbeiteten neben Schulmeister
Koch zwei tüchtige Unterlehrer, denen schon 1845 wegen ihres Eifers
und der guten Früchte desselben eine außerordentliche Belohnung
zugesprochen wurde. Bei der Martinivisi [pag184]tation des Jahres 1846
bewiesen in der Klasse des Unterlehrers Vöhringer treffende Antworten,
daß nicht nur das Gedächtnis, sondern auch die Urteilskraft
angeregt worden war. Bei Unterlehrer Fladt herrschte viel Lebendigkeit,
Bekanntschaft mit der Biblischen Geschichte, und im Rechnen war ein
guter Grund gelegt. Provisor Krämer kam mit seiner überfüllten
Klasse von 117 Schülern nicht recht zustande. Im folgenden Jahr
mußte Abteilungsunterricht eingerichtet werden. In dem harten,
schneereichen Winter 1846/47 wurde die Zahl der wöchentlich mit
Brot oder Mehl Unterstützten von 14 auf 27 erhöht. Im Frühjahr
1847 stieg der Brotpreis auf 40 Kreuzer. Es wurde wieder Mischung mit
Malzteig empfohlen. In Stuttgart gab es am Abend des 3. Mai einen Krawall.
Von einem Bäcker in der Hauptstätter Straße hieß es,
er habe nicht genug Brot gebacken, weil er auf den Ausschlag warte.
Taglöhner, Fabrikarbeiter, Gesellen und Lehrlinge fanden sich
zusammen, im Hintergrund Weiber, die auf Gelegenheit zum Plündern
warteten. Als das Militär kam, wurden die Staketen der Nesenbachbrücke
abgerissen, um sie gegen die Soldaten zu verwenden. Vom Pfeifen und
Schreien kam es zum Steinewerfen, und als nun das Militär Feuer
gab, wurde ein Schustergeselle tödlich getroffen. Zwischen 9 und
10 Uhr ritt der König mit dem Kronprinzen durch die Straßen,
auf denen sich noch das Volk drängte. Zwischen 11 und 12 Uhr war
die Ruhe wiederhergestellt. Am andern Morgen wollten alle die Kugellöcher
an den Mauern und Türen der Neuen Brücke sehen. Die Straßen
waren von Militär und Bürgerwache besetzt. „Wenn dem
Bürgertum seine Rechte nicht mehr vorenthalten werden, ist es
die beste Sicherheitswache gegen die Zerstörungsgelüste des
Proletariats." Der hiesige Stiftungsrat beschloß nun, 300-400
Gulden in kleinen Posten an Unbemittelte gegen Bürgschaft auszuleihen
und mit der Brot- und Mehlgabe um 1 Pfund aufzuschlagen. Auf 20. Juni
wurde ein allgemeiner Bettag angeordnet, der eröffnet wurde durch
das Blasen der Posaunen vom Turm; der Gottesdienst wurde verschönt
durch Instrumental- und Vokalmusik, Posaunenblasen und Chorgesang.
Die große Hitze des Juli ließ die ersehnte Ernte rasch
reifen, und am 2. August wurde sie durch einen Gottesdienst um 10 Uhr
feierlich eröffnet. Der Brotpreis sank bis auf 21 Kreuzer. Dagegen
fehlten auch diesmal wieder die Kartoffeln. Ganz ungeheuer war aber
der Obstsegcn. Von einem einzigen Birnbaum wurden 6 Eimer Most gemacht,
ohne Zusatz von Wasser. Außer dem Mosten und Dörren, das
die Schnitztruchen auf Jahre hinaus füllte, wurde auch viel Obst
zum Schnapsbrennen verwendet. Wein gab es viel, aber der regnerische
September ließ die Trauben nicht völlig ausreifen. Eine
Eingabe der Stuttgarter Kollegien um Pressefreiheit in inneren Angelegenheiten
wurde von Stadtdirektion und Regierung mit einem Rüffel abgewiesen,
und doch unterwühlt der die Grundlagen des Staates, der die Opposition
als aus gemeinen Beweggründen entsprungen verdächtigt. („Opposition
geit Liecht", hat einmal ein Untertürkheimer Stundenmann gesagt.)
Am 22. Januar 1848 wurde der Landtag eröffnet. In der Thronrede
hieß es, die Teurung sei geendet; bei der Linderung der Not haben
die Geistlichen vorangeleuchtet. Allen Versuchen, Unordnung zu stiften,
werde der König mit demselben Mut, mit dem er einst gegen den
Feind gekämpft, entgegentreten. Als die Ereignisse der Pariser
Februarrevolution bekannt wurden, bemächtigte sich aller eine
selten erhebende Bewegung. Am 3. März erschien das Dekret, das
die Zensur aufhob.
Frisch auf, du deutsche Jugend, du hast noch Mark
und Blut!
Nur Mut ist jetzt noch Tugend, nur Freiheit noch ein Gut.
Wir haben lang die Schande in uns zurückgepreßt.
Freiheit dem deutschen Lande! Schmach, wer sein Volk verläßt!
Am 9. März ernannte der König Duvernoy zum
Minister des Innern, Pfizer zum Kultminister, Römer für die
Justiz, Goppelt für die Finanzen. Alle Welt war jetzt liberal.
Man grüßte, nickte, zog den Hut, wo man sonst wegsah und
vorüberging. Im Hohenlohischen kam es zu Bauernaufständen,
bei denen die Akten der Standesherrschaften verbrannt wurden. In Weiler
verbrannten 300 Bauern alle Papiere auf einer Wiese, dann brachten
sie ein schallendes Hoch auf den König aus und zogen ab, arm,
wie sie gekommen waren. Diese Königstreue hat der alte Kriegskamerad
des Königs, Bartholomäus Warth,, ihm auch bezeugt. Er war
gerade [pag185]am Rübenfelgen, als der König in Zivil zu
ihm herritt. „Grüß Gott, Herr Warth, ich wollte nach
Ihnen sehen und fragen wie es aussieht." „Majestät, ich
bürge mit meinem Kopf, daß alles gut königlich gesinnt
ist." „Das werde ich den Untertürkheimern gedenken." Ein
Schweizer sagte damals: „Alles hat keinen Wert, wenn ihr nicht
das ganze Volk mit der Idee der Macht und der Größe Deutschlands
zu durchdringen versteht." Die Probe auf die neueingeführte Volksbewaffnung
und Bürgerwehr gab der sogenannte Franzosenfeiertag, 25. März
1848. Die ungeheuerlichsten Gerüchte wurden verbreitet und geglaubt,
und die Zweifler waren in Gefahr, als Landesverräter behandelt
zu werden. Als der Schultheiß von Eschenbach den oberamtlichen
Befehl erhielt, mit der waffenfähigen Mannschaft sofort nach Göppingen
zu marschieren, meinte er: „Dui Sach wurd et so pressant sei,
des wurd's morge au no dau." Der Mut und die Begeisterung, mit der
die Scharen auszogen, war groß, ungeheuer der Verkehr mit der
Regierung. In Untertürkheim war man ja weit vom Schuß, aber
eine Frau erinnert sich doch, daß alles, Mutter und Kinder, zusammen
geheult hat. Für die an der Landstraße Wohnenden mag es
unterhaltend gewesen sein, wenn alle zehn Minuten ein gelbbefrackter
Postillion mit weißen Lederhosen und hohen Stulpstiefeln vorbeisprengte,
dann wieder ein Wagen mit Flüchtlingen oder einer mit geflüchteter
Habe vorbeifuhr oder eine Kutsche mit einer Deputation an die Regierung.
Diese hatte einen Adjutanten nach Karlsruhe geschickt, der im Lauf
des 25. mit beruhigenden Nachrichten zurückkehrte. Am Sonntag,
dem 26., war der Spuk vorüber.
Dem Revolutionsfieber, das das ganze Volk in Stadt
und Land schüttelte, mag es zuzuschreiben sein, daß in den
zwei ersten Monaten in den Klassen der beiden Unterlehrer 15 und 18
unerlaubte Versäumnisse vorkamen und zwei Sonntagsschüler
sich sehr störrig, und widerspenstig bewiesen. Unterlehrer Fladt
wollte den einen mit Gefängnis gestraft wissen; aber dem Kirchenkonvent
war es nicht ums Strafen, sondern um Besserung, und so begnügte
er sich mit Verweis und Verwarnung. Der Not suchte man durch kleine
Anleihen und Brot- und Mehlerteilung zu steuern und nahm dankbar ein
unverzinsliches Anlehen von 200 Gulden an, das die Hirschwirt Lausterers
Witwe zur Verfügung stellte. Zum Stiftungspfleger wurde an Stelle
von Heinrich Weste Gemeinderat Johannes Kloz auf drei Jahre gewählt
und für die Verwaltung der Privatalmosenkasse Kaufmann Fausel. "Bei
der erschreckenden Arbeitsund Verdienstlosigkeit erschien vielen der
Kommunismus als der einzige Retter, und man wendete ihn zunächst
praktisch an, indem jeder nahm, nach was ihn gelüstete, und tat,
was er wollte. So haben in der Göppinger Gegend Trupps von 10-15
Mann Holz gefällt, gescheitet und in vierspännigen Wagen
abgeführt, und der Förster mußte sich von sechzehnjährigen
Buben verhöhnen lassen. Seine Schuldigkeit gegen Staat, Gemeinde
oder Private zu erfüllen, galt für dumm. Im hofkammerlichen
Weinberghaus, dem „Reibhäuschen", wurde eingebrochen. Der
Dieb fand freilich bloß eine Fahne, die er mitnahm und zu einem
Kleidungsstück verwendete. Mehr fand ein Einbrecher, der aus der
Kapelle auf dem Rotenberg heilige Gefäße raubte. Hier aber
stiegen Buben während des Gottesdienstes in den Turm hinauf und
nahmen Spatzen- und Schwalbennester aus, mißhandelten auch die
jungen Vögel.
Das Frühjahr über beschäftigte die
Wahl der Nationalversammlung die Gemüter. Am 18. Mai 1848 wurde
sie in der Paulskirche in Frankfurt eröffnet und Erzherzog Johann
zum Reichsverweser gewählt und in einem Festgottesdienst am 11.
Juli Heil und Segen auf ihn herabgewünscht. Daß der Waffenstillstand
mit Dänemark, durch den Schleswig von Holstein getrennt und Dänemark
zugesprochen wurde, doch noch von der Nationalversammlung genehmigt
wurde, hatte den Barrikadenkampf in Frankfurt, die Ermordung des Fürsten
Lichnowsky und den Einfall Struves in Baden zur Folge. Am 20. September
wurde der neugewählte Landtag eröffnet. Als am 23. wegen
der Unruhen im Lande das dritte Banner der Stuttgarter Bürgerwehr
aufgeboten wurde, ging der König, der eben von Meran zurückgekommen
war, in bürgerlicher Kleidung über den Platz, mit lebhaften
Hochrufen empfangen. An diesem Tag war in Untertürkheim Faßmarkt,
und in Erwartung des reichen Herbstes wurden beinahe 6000 Eimerfässer
verkauft. Am Volksfest aber war eine gedrückte Stimmung. Wegen
der angekündigten Zuzüge glich Stuttgart einem Kriegslager.
Als Robert Blum wegen[pag186]seiner Teilnahme am Wiener Aufstand am
9. November erschossen worden war, wurde ihm zu Ehren ein Fackelzug
veranstaltet, der sich über die ganze Länge der Königstraße
erstreckte. Im Landtag und im Land wurde heftig darüber gestritten,
ob sich der König noch „von Gottes Gnaden" heißen
dürfe. Auf Weihnachten bescherte die Nationalversammlung dem deutschen
Volk die Grundrechte, die in Württemberg am 17. Januar 1849 bindende
Kraft erhielten, während Preußen sie nicht annahm; die andern
Staaten folgten meistens dem Beispiel Württembergs. Durch § 23
wurde das Unterrichts- und Erziehungswesen der Beaufsichtigung der
Kirche entzogen. Trotz der ablehnenden Haltung Preußens hat die
Nationalversammlung am 30. März 1849 eine Deputation von 32 Mitgliedern
nach Berlin geschickt, um Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anzubieten.
Sie wurde schlecht behandelt und das Anerbieten abgelehnt, dagegen
stellte der König das preußische Schwert gegen äußere
und innere Feinde zur Verfügung, und als im Mai in der Pfalz und
in Baden sich Volk und Heer für die Reichsverfassung erhob, die
am 28. März beschlossen worden war, wurde der Aufruhr unter Führung
des Prinzen von Preußen, nachmaligen Kaisers Wilhelm, durch preußisches
Militär blutig niedergeschlagen. Als die württembergische
Kammer mit Zweidrittelmehrheit die Reichsverfassung für gesetzlich
bestehend erklärte, verließ der König die Hauptstadt.
Um aber Aufstand und Blutvergießen zu Vermeiden, unterschrieb
er, wenn auch widerwillig, eine Erklärung, daß er die Reichsverfassung
annehme, unter der Voraussetzung, daß sie in Deutschland in Wirksamkeit
trete. Eine Versammlung in Reutlingen am Pfingstmontag erklärte
Preußen für den Reichsfeind und forderte ein Schutz- und
Trutzbündnis mit den Aufständischen. Aber die Nationalversammlung
schwand zusammen. Österreich und Preußen beriefen ihre Abgeordneten
zurück, und das Rumpfparlament, 103 Abgeordnete, verlegte am 6.
Juni seinen Sitz nach Stuttgart. Aber schon am 18. wurde ihnen das
Reithaus, in dem sie ihre Sitzungen hielten, vom „Märzminister" Römer
gesperrt.
Während all dieser Unruhen ging das Leben in
unserer Gemeinde ruhig seinen Gang. Wegen Kopfleidens hatte Pfarrer
Schmid schon 1847 seinen Sohn als Vikar bekommen. Der Vikar hat Männer
und Jünglinge versammelt, um sie über die Zeitereignisse
zu unterrichten. Es gab auch hier politische Wühler, aber der
Kirchenbesuch war gut auch an Bußtagen, und die Privaterbauungsgesellschaft
(Stunde) wurde von etwa 200 Mitgliedern besucht. In all dem Drang und
der Not der Zeit sind die Mittel zur Anschaffung eines silbernen Kruzifixes
zusammengekommen (jetzt im Gartenstadtkirchlein). 153 Gulden wurden
gestiftet oder geopfert, die fehlenden 68 sollten durch Festtagsopfer
vollends aufgebracht werden. Am meisten empfand man die unruhige Zeit
bei der Jugend, namentlich den Sonntagsschülern. Da fehlten drei,
weil sie auf der Brücke von ledigen Leuten ausgespottet worden
seien, als sie in die Sonntagsschule gingen. Neun andere mußten
wegen mutwilligen Schwänzens gestraft werden. Bei zehn Werktagsschülern
begnügte man sich damit, den Müttern die Notwendigkeit des
Schulbesuchs ans Herz zu legen. Die Errichtung einer Kleinkinderschule,
für die schon vor Jahren 200 Gulden Beitrag angeboten wurden,
kam der Ausführung näher. Der Stiftungsrat erkannte das Bedürfnis
für die etwa 200 Kinder an. Mit Hilfe des Schulfonds, der auf
700 Gulden angewachsen war, und freiwilliger Beiträge im Betrag
von 300 Gulden hoffte man sie in dem der Zehntkelter angehängten
Weinhaus einrichten zu können. Für die Mehrkosten müßte
dann die Gemeindepflege einstehen. Am 2. Juli 1849 kehrte der König
nach Stuttgart zurück und unterschrieb das Gesetz zur Wahl einer
verfassunggebenden Versammlung nach allgemeinem Wahlrecht. Württemberg
hatte fast allein der Reichsverfassung noch nicht entsagt. Aber als
am 30. Oktober Minister Schlayer an Römers Stelle trat, wurde
der Eid auf die Reichsverfassung gestrichen, und als sich die verfassunggebende
Versammlung dagegen und gegen das Fortbestehen der ersten Kammer wehrte,
wurde sie aufgelöst. „Als in dem Monat Märzen die neue
Zeit begann, da fing im deutschen Herzen auch neu die Hoffnung an.
Kaum ging ein Jahr vorüber und schlimmer ward's und trüber,
du armes Vaterland!" So hieß es bei den Demokraten. Ein Franzose
aber schrieb: „Württemberg wird von einem Herrscher regiert,
dessen Weisheit und Festigkeit es durch geschickte Mischung von Milde
und Autorität erreicht hat, daß seine Haupt-.[pag187]Stadt
weder die Unterdrückung der roten Republikaner noch die Befreiungskanonade
der Preußen zu erdulden hatte. "Bei der Landtagswahl im Februar
1850 wurde der Untertürkheimer Schultheiß Mäulen mit
1655 gegen 635 Stimmen seines Gegenkandidaten gewählt. Er war
ein konservativer, königstreuer Mann, der auch in den kommenden
Notjahren den Notleidenden geholfen hat, so gut er konnte, und nicht
wie andere sich bereichert hat, indem er Güter um ein Nasenwasser
aufkaufte. Er wurde in den Ausschuß des Konservativen Zentralvereins
gewählt. Der neugewählte Landtag wurde schon am 3. Juli wieder
heimgeschickt, weil er sich gegen das Fortbestehen des Bundestags und
der Kammer der Standesherren sträubte, und ein Ministerium Linden
berufen. Bei der Eröffnung der am 21. September gewählten
Kammer sagte der Stiftsprediger Klemm in seiner Eröffnungspredigt: „Den
Frieden soll man lieben, aber nicht um jeden Preis." Und auf dem im
September in Stuttgart gehaltenen Kirchentag war davon die Rede, daß es
nicht bloß eine Pflicht des Gehorsams, sondern auch des Widerstands
gebe. Die Gegensätze waren unversöhnlich, so wurde der Landtag
am 11. November wieder aufgelöst. Bei der Wahl im September hatten
im Bezirk Cannstatt von 4498 Wahlberechtigten 1255 für Mäulen,
288 für den Gegenkandidaten und 149 für Se. Majestät
den König gestimmt. Es hatten also 2806 nicht abgestimmt. Diese
Wahlmüdigkeit des Volkes gab den Vorwand, den neuen Landtag erst
im März 1851, und zwar nicht mehr nach dem allgemeinen Wahlrecht,
sondern nach dem alten Recht von 1819 wählen zu lassen. Bei der
Eröffnungspredigt hatte Stiftsprediger Klemm den Mut, vor dem
Streben, das Alte wiederherzustellen, zu warnen. „Die Gewalt
der Bajonette tut's nicht, unumgänglich notwendig ist die Gerechtigkeit,
die das Recht nicht unter die Füße tritt." Eines hatte die
Kammer des Frühjahrs 1850 zustande gebracht: den Zehntablösungsvertrag
in sechzehnfachem Betrag. Für Untertürkheim bedeutete er
eine Summe von 39554 Gulden, in 25 Jahresraten zu bezahlen, nämlich
aus Lehen und Zinsgütern 9747 Gulden, Fronen 274, Hellerzins und
Vogthaber 1821, Zehntabgaben 26 064 und Gefälle der Stiftungsverwaltung
Eßlingen 1743 Gulden.