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Untertürkheimer Heimatbuch 1935
Von Johannes Keinath

Von der Eisenbahn. Von Johannes Keinath

Die Neckartalbahn

Unsere Heimatgemeinde Untertürkheim und das nahegelegene Cannstatt sind die ersten Eisen- bahnstationen in Württemberg. Die zwischen ihnen liegende Strecke wurde am 22. Oktober 1845 feierlich eröffnet. Die Regierung und das breite Volk nahmen an diesem denkwürdigen Ereignis lebhaften Anteil.

Die Strecke wurde mit Sonderzügen befahren, und eine frohe Nachfeier der Festgäste im Hirschgarten schloß sich an. Für die Einwohnerschaft von Untertürkheim war die Einweihung der ersten Eisenbahnlinie ein besonderes Ereignis. Damit wurden Untertürkheim und Stuttgart einander nähergerückt und der Verkehr zwischen dem Heimatdorf und der Hauptstadt gewaltig gesteigert.
Am 7. November 1845 wurde der Eisenbahnbetrieb bis Obertürkheim, am 20. November bis Eßlingen weitergeführt. Für Ausflügler und Badegäste wurde unser Heimatort ein beliebtes Ziel; die einheimischen Händler brachten ihre Waren gerne auf den Stuttgarter Markt.

Erster Bahnhof

Um jene Zeit und noch lange hernach muß der Eisenbahnbetrieb sehr gemütlich verlaufen sein. Der Zug hielt über die Zeit der Abfahrt hinaus, um einzelne Fahrgäste noch mitzunehmen, oder lud sie wohl auch unterwegs noch ein. Eine Sperre gab es bis in die neuere Zeit herein nicht, und die Schranken zwischen Langer Straße und Brücke fehlten noch, so daß des öfteren ein Unglück sich ereignete. Noch drei Jahrzehnte verblieb Untertürkheim ein reiner Weingärtnerort. Aber schon ums Jahr 1880 besitzt es einen bedeutsamen Verkehr; es sind in diesem Jahr mehr denn 180 000 Personen abgegangen und angekommen, d. h. mehr denn 500 Personen täglich. Entsprechend hoch ist die Zahl der Güter; betrug sie doch mehr denn 50 000 kg täglich. Vor allem wurden große Mengen an Steinkohlen befördert.
So nahm Untertürkheim im Personen- und Güterverkehr Württembergs von jeher eine der ersten Stellen ein. Diese Bedeutung ist im Laufe der Jahre beträchtlich größer geworden, vor allem durch das rasche Anwachsen der hiesigen Industrie und der in ihr beschäftigten Arbeiter.
So mußten zu bestimmten Zeiten, bei Geschäftsbeginn und Geschäftsende, besondere Arbeiterzüge talaufwärts und talabwärts geführt werden. Insbesondere die Arbeiterschaft von den Daimlerwerken, die sich seit langem auf mehrere tausend belief, fiel im Nahverkehr stark ins Gewicht.
Die zweigleisige Neckartalbahn hatte während der Mobilmachung und überhaupt während des Weltkrieges einen gewaltigen Verkehr zu bewältigen. Eine Reihe von kleinen Durchlässen gab es an der Mühlstraße, am Gasthaus zum Ochsen, an der Brücke und bei der Zwickerschen Gipsmühle. An ihre Stelle sind heute breite Unterführungen getreten, die dem riesig gesteigerten Wagen-, Auto- und Straßenbahnverkehr genügen.

Alter Bahnhof
Die Bahnstrecke nach Cannstatt verlief ursprünglich nahe der Landstraße, ebenso die Bahnstrecke nach Obertürkheim, die an der Eßlinger Straße hinführte und dann in die Wiesen einbog. Durch großzügige PIäne auf lange Sicht mußte dem wachsenden Verkehr auf der rechten Neckarseite Raum gewonnen werden. Eine vollständige Umgestaltung des Talgrundes erfolgte. In jahrzehntelangen gewaltigen Unternehmen wurde dem Neckar zwischen Untertürkheim und seinen Nachbarorten Obertürkheim und Cannstatt ein neues Bett gewiesen. Auf dem alten Neckar wurde weithin der neue Bahndamm aufgeschüttet. Der alte Bahndamm wurde abgetragen.
Breite Straßenzüge mit Straßenbahnlinien, die teilweise auf der Stelle der alten Eisenbahnstrecke verlaufen, verbinden unsern Ort mit Obertürkheim und Cannstatt. Gleichzeitig wurde der Schienenstrang verbreitert und viergleisig ausgebaut. Auf diesem Liniennetz spielt sich heute ein gewaltiger Fernverkehr und ein fast viertelstündlicher Nahverkehr ab. An die Stelle der mit Kohle geheizten Lokomotive ist der elektrische Triebwagen und die elektrische Maschine getreten. Ein Riesenverkehr ist heute fast Tag und Nacht zu bewältigen. Damit ist Untertürkheim auch im Ausmaß seines Verkehrs ein Teil von Groß-Stuttgart geworden.

Umgehungsbahn und Güterbahnhof

Auf Grund des Gesetzes vom 15. Juni 1893 wurde die Güterbahn von Untertürkheim nach Kornwestheim gebaut. Sie sollte den Bahnhof Stuttgart und die Hauptstrecke entlasten und wurde deshalb vorwiegend für den Güterverkehr, in beschränkter Weise auch für den [p390] Personenverkehr vorgesehen. Die Strecke steigt vom Güterbahnhof Untertürkheim bis Kornwestheim um rund 75 m.
Zu dem Bau wurden ungeheure Massen von Erde und Steinen bewegt: die Bauzeit ersteckte sich vom Frühjahr 1894 über zweieinhalb Jahre hin. Auf einem 205 m langen und 35 m hohen Viadukt wird das Tal zwischen Cannstatt und Münster überquert. Die Kosten der Umgehungsbahn beliefen sich auf nahezu 9 Millionen Mark.
Am 1. Mai 1879 wurde die Verbindungsbahn vom Untertürkheimer Güterbahnhof zur Remstalbahn, die von Cannstatt nach Aalen führt, in Betrieb gesetzt. Infolge der neuen Bahn war es notwendig, ein neues Verwaltungsgebäude samt Wartehalle zu erstellen. Der Güter- und Rangierbahnhof schließt sich an den Personenbahnhof an. Um für die umfangreiche Anlage Raum zu gewinnen, mußte die Hauptbahn zwischen Untertürkheim und Cannstatt auf einer Strecke von 2200 m gegen den Neckar hin verlegt werden. Auch die Staatsstraße mußte gegen den Berghang des Wallmer hin gerückt werden.
Der Güterbahnhof ist insgesamt 2,3 km lang und durchschnittlich 125 m breit. Damit ist ein gewaltiger Rangierbahnhof geschaffen, der den Ansprüchen eines großen Güterverkehrs genügt. Eine Reihe von Hochbauten sind inmitten dieses ausgebreiteten Schienennetzes erstellt, so ein Verwaltungsgebäude mit Nebengebäuden und ein Güterschuppen mit Verladerampe. Vorhanden sind ferner ein Gebäude mit Warteräumen und Bahnsteig für den Personenverkehr der Güterbahn, eine elektrische Zentrale, ein Lokomotivschuppen mit vier Ständen und Wasserstelle sowie fünf Stellwerksbuden. Außer verschiedenen sonstigen Dienstbuden ist eine Drehscheibe und eine Rampe angebracht, die mit 300 m Länge zum Verladen von Truppen dient.
Am 1. Oktober 1896 wurde der Betrieb eröffnet. Die Einweihung der Nebenbahn war ein großartiges Ereignis für die Untertürkheimer wie diejenige der Hauptbahn 41 Jahre zuvor. Zum Empfang des Königs Wilhelm II., der an der Feier teilnahm, stellten Sich die Gemeindevertreter, die Vereine und Schulen auf dem Bahnhofsplatz auf. In einem Sonderzug fand eine Probefahrt auf der Strecke statt.
Im Lauf der Jahre hat sich ein großer Umschlag von Gütern aller Art auf dem Güterbahnhof entwickelt. Außer zahlreichen Expreßstücken, Raketen und Eilgütern werden insbesondere viele Milchkannen befördert. Taufende von Tonnen Stückgut, ebenso Taufende von Wagenladungen werden versandt und gehen ein. Seit September 1904 besteht auf der Bahnstrecke Untertürkheim— Münster—Kornwestheim ein zweigleisiger Betrieb.
Reichsbahngelände

Sechs Jahre später wurde der Güterbahnhof erweitert. Schon um jene Zeit war der Verkehr auf den beiden Untertürkheimer Bahnhöfen ein gewaltiger. Fast 1 1/2 Millionen Menschen fuhren hier ab, und rund 1 1/2 Millionen Mark wurden hier eingenommen; fast 350 000 Tonnen Güter kamen an und wurden versandt. Damit nahm Untertürkheim die fünfte oder sechste Stelle im württembergischen Gesamtverkehr ein.
Für die zwei Dienststellen mit ihren 20 Beamten, 60 Unterbeamten, 12 Hilfsbeamten und fast 150 Arbeitern gab es mit steigendem Verkehr und Umsatz eine Überfülle von Arbeit. Es war eine besondere Leistung, daß die Massen des Weltkrieges auf den heimischen Strecken so pünktlich befördert und die haltenden Truppenzüge so tadellos abgefertigt wurden. Bei Kriegsende kam eine Zeit größerer Ruhe, die durch die Ungunst der Verhältnisse und durch die Geldknappheit bedingt wurde. Die Zahlen für die Nachkriegszeit spiegeln in ihrem Auf- und Abstieg die Besserung und Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage.
Seit die ausgebaute viergleisige Strecke in Betrieb genommen wurde, insbesondere seit den Jahren der nationalen Erhebung, hat sich ein neuer, bisher nicht erlebter Aufschwung im Verkehr und Versand ergeben. Gegenüber der Zeit vor 30 Jahren hat dieser sich um das Fünf- und Zehnfache, ja sogar um das Zwanzig- und Dreißigfache in den einzelnen Gebieten gesteigert.

So ist Untertürkheim heute ein wichtiger Verkehrs- und Umschlageplatz; leider halten Schnell- und Eilzüge nicht am Ort, da Stuttgart, Cannstatt und Eßlingen zu nahe gelegen sind. Immerhin bietet die Bahnstation unserer Heimatgemeinde vorzügliche Verbindungen und damit viele und gerne benutzte Annehmlichkeiten.

Plan von 1902