Von
der Eisenbahn. Von Johannes Keinath
Die Neckartalbahn
Unsere Heimatgemeinde Untertürkheim und das nahegelegene
Cannstatt sind die ersten Eisen- bahnstationen in Württemberg. Die
zwischen ihnen liegende Strecke wurde am 22. Oktober 1845 feierlich eröffnet.
Die Regierung und das breite Volk nahmen an diesem denkwürdigen Ereignis
lebhaften Anteil.
Die Strecke wurde mit Sonderzügen befahren, und
eine frohe Nachfeier der Festgäste im Hirschgarten schloß sich
an. Für die Einwohnerschaft von Untertürkheim war die Einweihung
der ersten Eisenbahnlinie ein besonderes Ereignis. Damit wurden Untertürkheim
und Stuttgart einander nähergerückt und der Verkehr zwischen
dem Heimatdorf und der Hauptstadt gewaltig gesteigert.
Am 7. November 1845 wurde
der Eisenbahnbetrieb bis Obertürkheim, am 20. November bis Eßlingen
weitergeführt. Für Ausflügler und Badegäste wurde unser
Heimatort ein beliebtes Ziel; die einheimischen Händler brachten ihre
Waren gerne auf den Stuttgarter Markt.
Um jene Zeit und noch lange hernach
muß der Eisenbahnbetrieb sehr gemütlich verlaufen sein. Der
Zug hielt über die Zeit der Abfahrt hinaus, um einzelne Fahrgäste
noch mitzunehmen, oder lud sie wohl auch unterwegs noch ein. Eine Sperre
gab es bis in die neuere Zeit herein nicht, und die Schranken zwischen
Langer Straße und Brücke fehlten noch, so daß des öfteren
ein Unglück sich ereignete. Noch drei Jahrzehnte verblieb Untertürkheim
ein reiner Weingärtnerort. Aber schon ums Jahr 1880 besitzt es einen
bedeutsamen Verkehr; es sind in diesem Jahr mehr denn 180 000 Personen
abgegangen und angekommen, d. h. mehr denn 500 Personen täglich. Entsprechend
hoch ist die Zahl der Güter; betrug sie doch mehr denn 50 000 kg täglich.
Vor allem wurden große Mengen an Steinkohlen befördert.
So nahm
Untertürkheim im Personen- und Güterverkehr Württembergs
von jeher eine der ersten Stellen ein. Diese Bedeutung ist im Laufe der
Jahre beträchtlich größer geworden, vor allem durch das
rasche Anwachsen der hiesigen Industrie und der in ihr beschäftigten
Arbeiter.
So mußten zu bestimmten Zeiten, bei Geschäftsbeginn
und Geschäftsende, besondere Arbeiterzüge talaufwärts und
talabwärts geführt werden. Insbesondere die Arbeiterschaft von
den Daimlerwerken, die sich seit langem auf mehrere tausend belief, fiel
im Nahverkehr stark ins Gewicht.
Die zweigleisige Neckartalbahn hatte während
der Mobilmachung und überhaupt während des Weltkrieges einen
gewaltigen Verkehr zu bewältigen. Eine Reihe von kleinen Durchlässen
gab es an der Mühlstraße, am Gasthaus zum Ochsen, an der Brücke
und bei der Zwickerschen Gipsmühle. An ihre Stelle sind heute breite
Unterführungen getreten, die dem riesig gesteigerten Wagen-, Auto-
und Straßenbahnverkehr genügen.
Die Bahnstrecke nach Cannstatt
verlief ursprünglich nahe der Landstraße, ebenso die Bahnstrecke
nach Obertürkheim, die an der Eßlinger Straße hinführte
und dann in die Wiesen einbog. Durch großzügige PIäne auf
lange Sicht mußte dem wachsenden Verkehr auf der rechten Neckarseite
Raum gewonnen werden. Eine vollständige Umgestaltung des Talgrundes
erfolgte. In jahrzehntelangen gewaltigen Unternehmen wurde dem Neckar
zwischen Untertürkheim und seinen Nachbarorten Obertürkheim
und Cannstatt ein neues Bett gewiesen. Auf dem alten Neckar wurde weithin
der neue Bahndamm aufgeschüttet. Der alte Bahndamm wurde abgetragen.
Breite Straßenzüge mit Straßenbahnlinien, die teilweise
auf der Stelle der alten Eisenbahnstrecke verlaufen, verbinden unsern Ort
mit Obertürkheim und Cannstatt. Gleichzeitig wurde der Schienenstrang
verbreitert und viergleisig ausgebaut. Auf diesem Liniennetz spielt sich
heute ein gewaltiger Fernverkehr und ein fast viertelstündlicher Nahverkehr
ab. An die Stelle der mit Kohle geheizten Lokomotive ist der elektrische
Triebwagen und die elektrische Maschine getreten. Ein Riesenverkehr ist
heute fast Tag und Nacht zu bewältigen. Damit ist Untertürkheim
auch im Ausmaß seines Verkehrs ein Teil von Groß-Stuttgart
geworden.
Umgehungsbahn und Güterbahnhof
Auf Grund des Gesetzes vom 15. Juni 1893 wurde die Güterbahn von Untertürkheim
nach Kornwestheim gebaut. Sie sollte den Bahnhof Stuttgart und die Hauptstrecke
entlasten und wurde deshalb vorwiegend für den Güterverkehr,
in beschränkter
Weise auch für den [p390] Personenverkehr vorgesehen. Die Strecke
steigt vom Güterbahnhof Untertürkheim bis Kornwestheim um rund
75 m.
Zu dem
Bau wurden ungeheure Massen von Erde und Steinen bewegt: die Bauzeit ersteckte
sich vom Frühjahr 1894 über zweieinhalb Jahre hin. Auf einem
205 m langen und 35 m hohen Viadukt wird das Tal zwischen Cannstatt und
Münster überquert.
Die Kosten der Umgehungsbahn beliefen sich auf nahezu 9 Millionen
Mark.
Am 1.
Mai 1879 wurde die Verbindungsbahn vom Untertürkheimer Güterbahnhof
zur Remstalbahn, die von Cannstatt nach Aalen führt, in Betrieb gesetzt.
Infolge der neuen Bahn war es notwendig, ein neues Verwaltungsgebäude
samt Wartehalle zu erstellen. Der Güter- und Rangierbahnhof schließt
sich an den Personenbahnhof an. Um für die umfangreiche Anlage Raum
zu gewinnen, mußte die Hauptbahn zwischen Untertürkheim und
Cannstatt auf einer Strecke von 2200 m gegen den Neckar hin verlegt werden.
Auch die Staatsstraße
mußte gegen den Berghang des Wallmer hin gerückt werden.
Der Güterbahnhof
ist insgesamt 2,3 km lang und durchschnittlich 125 m breit. Damit ist ein
gewaltiger Rangierbahnhof geschaffen, der den Ansprüchen eines großen
Güterverkehrs
genügt. Eine Reihe von Hochbauten sind inmitten dieses ausgebreiteten
Schienennetzes erstellt, so ein Verwaltungsgebäude mit Nebengebäuden
und ein Güterschuppen
mit Verladerampe. Vorhanden sind ferner ein Gebäude mit Warteräumen
und Bahnsteig für den Personenverkehr der Güterbahn, eine elektrische
Zentrale, ein Lokomotivschuppen mit vier Ständen und Wasserstelle
sowie fünf Stellwerksbuden. Außer verschiedenen sonstigen Dienstbuden
ist eine Drehscheibe und eine Rampe angebracht, die mit 300 m Länge
zum Verladen von Truppen dient.
Am 1. Oktober 1896 wurde der Betrieb eröffnet.
Die Einweihung der Nebenbahn war ein großartiges Ereignis für
die Untertürkheimer
wie diejenige der Hauptbahn 41 Jahre zuvor. Zum Empfang des Königs
Wilhelm II., der an der Feier teilnahm, stellten Sich die Gemeindevertreter,
die Vereine und Schulen auf dem Bahnhofsplatz auf. In einem Sonderzug fand
eine Probefahrt auf der Strecke statt.
Im Lauf der Jahre hat sich ein großer
Umschlag von Gütern aller Art auf dem Güterbahnhof entwickelt.
Außer zahlreichen
Expreßstücken, Raketen und Eilgütern werden insbesondere
viele Milchkannen befördert. Taufende von Tonnen Stückgut, ebenso
Taufende von Wagenladungen werden versandt und gehen ein. Seit September
1904 besteht auf der Bahnstrecke Untertürkheim— Münster—Kornwestheim
ein zweigleisiger Betrieb.
Sechs Jahre später wurde der Güterbahnhof
erweitert. Schon um jene Zeit war der Verkehr auf den beiden Untertürkheimer
Bahnhöfen ein gewaltiger. Fast 1 1/2 Millionen Menschen fuhren hier
ab, und rund 1 1/2 Millionen Mark wurden hier eingenommen; fast 350 000
Tonnen Güter
kamen an und wurden versandt. Damit nahm Untertürkheim die fünfte
oder sechste Stelle im württembergischen Gesamtverkehr ein.
Für
die zwei Dienststellen mit ihren 20 Beamten, 60 Unterbeamten, 12 Hilfsbeamten
und fast 150 Arbeitern gab es mit steigendem Verkehr und Umsatz eine Überfülle
von Arbeit. Es war eine besondere Leistung, daß die Massen des Weltkrieges
auf den heimischen Strecken so pünktlich befördert und die haltenden
Truppenzüge so tadellos abgefertigt wurden. Bei Kriegsende kam eine
Zeit größerer Ruhe, die durch die Ungunst der Verhältnisse
und durch die Geldknappheit bedingt wurde. Die Zahlen für die Nachkriegszeit
spiegeln in ihrem Auf- und Abstieg die Besserung und Verschlechterung der
allgemeinen Wirtschaftslage.
Seit die ausgebaute viergleisige Strecke in
Betrieb genommen wurde, insbesondere seit den Jahren der nationalen
Erhebung, hat sich ein neuer, bisher nicht erlebter Aufschwung im Verkehr
und Versand ergeben. Gegenüber
der Zeit vor 30 Jahren hat dieser sich um das Fünf- und Zehnfache,
ja sogar um das Zwanzig- und Dreißigfache in den einzelnen Gebieten
gesteigert.
So ist Untertürkheim heute ein wichtiger Verkehrs- und
Umschlageplatz; leider halten Schnell- und Eilzüge nicht am Ort, da
Stuttgart, Cannstatt und Eßlingen
zu nahe gelegen sind. Immerhin bietet die Bahnstation unserer Heimatgemeinde
vorzügliche Verbindungen und damit viele und gerne benutzte Annehmlichkeiten.