[pag187] Der Winter 1849/50 war sehr schneereich.
Am 28. Januar hatte man noch 12 Grad Kälte, dann kam Tau- und
Regenwetter und verwandelte das Tal von Untertürkheim abwärts
in einen großen See, nach Wangen konnte man nur mit Nachen gelangen.
Den jungen Leuten wurde den Winter über eine Art Fortbildungsschule
gegeben von Schulmeister Koch und den beiden
Unterlehrern, auch Vikar Schmid beteiligte sich daran, „um der
erwachsenen Jugend die langen Winterabende auf eine nützliche
Weise zu verkürzen".
Am 1. Mai wurde die [pag188] Klein-kinderschule eingeweiht, und
zwar als Privatanstalt, nur für die Einrichtung gab die Gemeindekasse
100 Gulden. In der ersten Begeisterung wurden 100 Kinder angemeldet,
später
waren es 80-90. Schon damals hat sich Unterlehrer Fladt, der 124 Kinder
in seiner Klasse unterrichtete, hervorgetan durch lobenswerte Disziplin
und besonders dadurch, daß der Abstand zwischen den ersten und
letzten Schülern viel geringer war als in anderen Klassen. Auch
hatte er die meisten musikalischen Kenntnisse. Allerdings hatte ihn
auch das Konsistorium schon wegen allzu scharfer Züchtigung bedräuen
müssen. Im allgemeinen war die Schule in dieser Zeit in recht
gutem Zustand.
Am 7. Juli konnte man in aller Morgenfrühe den
Zug durchfahren sehen, der mit vier schön bekränzten Wagen
die Fahrt von Stuttgart bis Friedrichshafen machte. In Geislingen wurde
die „kolossale" Lokomotive „Alb" vorgespannt, und in Friedrichshafen
waren 5000 Gäste versammelt, um den Zug mit Musik, Böllerschüssen
und tausendstimmigem Lebehoch zu empfangen. Der Herbst war so, daß die
Remstäler hofften, der Wein werde wenigstens einen Most ersetzen.
Die rasch eintretende Kälte hatte im Herbst 1849 vielfach das
Pflegen unmöglich gemacht, und so war vieles erfroren, und obgleich
man mit der Lese bis zum 29. Oktober wartete, war der Wein doch sauer,
und sauren hatten die Weingärtner vom Vorjahr noch im Keller,
aber lesen mußte man unter Schnee und Regen. Die Kartoffeln waren
krank, der Kernen schlug in einem Monat um einen Gulden auf, man sah
einem schlimmen Winter entgegen. Bei einem Armengottesdienst am 15.
Januar 1851 wurden die neugewählten sieben Armenpfleger eingeführt,
und nachher verhandelte man auf dem Rathaus über Vorkehrungen
gegen den Handwerksburschenbettel und über die Unterbringung verwahrloster
Kinder. Das Osterfestopfer wurde für die Armen bestimmt, und drei
Pfarrgemeinderäte und drei Armenpfleger mußten von Haus
zu Haus für die Armen sammeln. Am 4. April hatte nämlich
die Wahl des neueingeführten Pfarrgemeinderats stattgefunden.
Von 365 Wahlberechtigten stimmten immerhin 160 ab. Der Pfarrgemeinderat
sollte „die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten besorgen";
aber fast die einzige praktische Aufgabe war die Teilnahme an der Armenpflege.
Gewählt wurden Gottlieb Warth, Johannes Wörz, Jakob Zaiß,
Gottfried Paule, Gemeindepfleger Warth, Friedrich Strauß, Gottlieb
Schwarz, Johannes Münzenmayer. Die Pfarrgemeinderäte bemühten
sich, die Sonntagsfeier zu schützen; aber am Sonntagnachmittag
kamen sie nicht auf gegen den Strom der Ausflügler, der sich vom
Bahnhof in den Ort ergoß, und so ließ der Eifer bald nach.
Am 1. August stieg der Neckar infolge anhaltender
Regengüsse fast so hoch wie 1824. An der Untertürkheimer
Brücke hatte sich schon frühe ein Floß quer herübergelegt,
und nun häufte sich Hausgerät und allerlei Holzwerk an, bis
am Abend die Brücke unter starkem Krachen zusammenbrach. Ein paar
Tage nachher wollten drei Männer und drei Weiber auf einem Schiff über
den Fluß setzen, mitten im Strom aber fing das Boot an zu sinken,
und nur mit größter Anstrengung gelang es den Fischern,
die Gefährdeten weit unten ans Land zu bringen. Die Stuttgarter
Bötin war dabei und hatte allerlei Bestelltes in ihrem Korb, aber
das meiste wurde gerettet. Auch im Jahr 1851 traf die Kartoffelkrankheit
wieder auf. Die Frucht war schlecht durch den Winter gekommen, nur
Futter gab es genug, daß die Leute wenigstens ihr Vieh behalten
konnten. Im Jahr 1851 wurde endlich das Postregal, das 1819 dem Fürsten
Thurn und Taxis verliehen worden war, mit 1 300 000 Gulden abgelöst.
Jetzt kosteten die Briefe im Inland 3 und 6 Kreuzer, und die Frau,
die hier in ihrem Korb die Briefe austrug, mußte auf den Kreuzer,
den sie bisher für einen Brief bekommen hatte, verzichten.
Im Winter 1851/52 stieg die Not immer höher.
Alle Geschäfte stockten, niemand hatte Geld zu kaufen oder etwas
machen zu lassen. Es gab im Lande Gemeinden, wo bei 1500 Seelen 500
unterstützt werden mußten. Hier wurde die Zahl der „wahrhaft
Bedürftigen" auf 72 Familien und Einzelpersonen festgestellt,
und in der Woche teilte man 285 Pfund Brot oder 204 Pfund Mehl aus.
Die kleinste Portion war 3 Pfund Brot oder 2 Pfund Mehl, die größte
bei einer kinderreichen Familie 9 Pfund Brot oder 8 Pfund Mehl. Das
gab kleine Stücklein! Dabei bemühte man sich, den Armen Verdienst
durch Notstandsarbeit, den Frauen durch Spinnen, [pag189] Stricken,
auch Weißsticken zu verschaffen. Der Preis des Kernen stieg von
15 auf 22 Gulden. Bei den Grabarbeiten zum Legen der Gasröhren
war ein junger Mann beschäftigt, der 15 Kreuzer Taglohn hatte.
Sein Mittagsmahl hielt er mit einem Krug Wasser und einem Laib Schwarzbrot.
Ein Laib Schwarzbrot kostete aber beinahe zwei Taglöhne. Drum
war das Saubohnenbrot. Die Saubohnen seien angelaufen, man habe sie
nicht wegwerfen wollen, sondern gemahlen und verbacken. Es gab längst
allerhand Brot. Solches, das aus Mehl und Malzteig gemacht war oder
aus Mehl und Zuckerrübenrückständen; das beste mag noch
das aus zwei Teilen Mehl und zwei Teilen Mohrrüben gewesen sein.
In der Zeit vor der Ernte kehrte die Not auch bei dem Mittelstand ein,
bei den nicht ganz Armen, die die Mildtätigkeit ihrer Mitbürger
nicht anrufen und der Gemeinde nicht zur Last fallen wollten, während
dort alle Vorräte aufgezehrt waren. Als man ernten wollte, kam
endloses Regenwetter, so daß man in „den Altwassern", den Äckern
am Exerzierplatz, Reiterle aufstellen und einen Rost aus Pfählen
machen mußte, um das Korn daran zu lehnen. In einzelnen Äckern
stand das Wasser so hoch, daß man in Zubern oder Booten hineinfuhr
und die Ähren absichelte. Kein Wunder, daß das neue Mehl
nichts taugte und der Teig zum Backofen herauslief, so daß Flaschner
Paule Blechkapseln machen mußte statt der Brotkörble. Die
Kartoffeln wurden knitz oder nur so groß wie Schneller. Am besten
gerieten noch die Rüben und Bodenkohlraben. Die glücklichen
Schulkinder, die zum Vesper einen Bodenkohlraben mitbekommen hatten,
wurden von den ärmeren bestürmt, ihnen doch auch einen Schnitz
zu geben. Als nun aber nach langen Regenwochen das Volksfest unter
einem sonnigen Septemberhimmel gefeiert wurde, drängte sich auf
dem Wasen eine unerhörte Menschenmenge, und die Tribünen
reichten nicht aus für die Schar der Schaulustigen. Ein Schauspiel
hatten die Untertürkheimer in diesem Jahr 1852 auch zu genießen.
Eines Tags im Frühjahr erschien auf dem Neckar ein schlanker Dampfer,
der seinen Weg neckarabwärts nach Heilbronn zu machen suchte,
nachdem er von der Maschinenfabrik Eßlingen vom Stapel gelassen
worden war. Es war das um dieselbe Zeit da die deutsche Flotte, eine
Frucht der Revolutionsjahre, unter den Hammer kam, weil der Bundestag
sie nicht über nehmen wollte.
Ein andersartiges Schauspiel war es für die Untertürkheimer,
als während der Weinlese der König zum erstenmal wieder seit
1846 in den Herbst kam und der kleine Prinz Wilhelm mit seinem Butten
auf dem Rücken unermüdlich Trauben aus dem Weinberg ins „.Reibhäusler" trug,
wo die Trauben gekeltert wurden. Der Herbst war nicht schlecht und
vom Wetter begünstigt. Denn auf den regenreichen Sommer folgte
ein unglaublich milder Herbst und Winter. Anfang Dezember konnte man
Märzveilchen pflücken. Schmetterlinge und Bienen flogen.
Im Januar blühten Huflattich und Batenken und allerlei andere
Frühlingsblumen, und in der Luft summten die Bienen und geigten
die Schnaken. Bis Mitte Januar standen die Schäfer mit ihren Herden
auf den Feldern, und an Weihnachten brachte einer einen Strauß reife
Erdbeeren heim. Vom 18. J°nuar 1853 an setzte aber der Winter ein
mit reichlichem Schneefall. Bis Anfang März hatte man eine Schlittenbahn.
Und nun kamen aus den abgelegenen Dörfern Scharen von Bettlern,
wahre Jammergestalten, in die Städte und wohlhabenderen Dörfer.
Der furchtbare Wolkenbruch, der am 12. Mai 1853 von Rottenburg bis
Heilbronn, am heftigsten im Oberamt Göppingen niederging, demolierte
hier den Notsteg und überschwemmte das Tal, ohne doch größeren
Schaden anzurichten. Am schlimmsten tobte das Unwetter in Rechberghausen
, wo ein kleines Bächlein zum Strom anschwoll und 7 Häuser
mit 38 Bewohnern einfach wegriß. Ein einziger kam mit dem Leben
davon, indem er einen Baumzweig ergriff und sich auf den Baum rettete.
Die Untertürkheimer haben dann zum Dank, daß sie so glimpflich
davongekommen sind, den Überschwemmten ein Kirchenopfer bestimmt.
Bei der ersten Kirchenkonventssitzung, die Dekan Heyd,
der an die Stelle des pensionierten Pfarrers Schmid getreten war, am
26. November 1853 hielt, waren außer ihm und Schultheiß Mäulen
anwesend: Bürgermeister Warth, Gemeindepfleger Warth und Stiftungspfleger
Warth. Der Herbst war wieder gering, die Kartoffeln waren krank oder
sehr klein, und der Obstsegen konnte den Ausfall aller sonstigen Bodenerzeugnisse
nicht ausgleichen. Der Kornpreis stieg [pag190] bis Dezember von 13
auf 25 Gulden 28 Kreuzer. Seinen Höhepunkt erreichte er vor der
Ernte des Jahres 1854 mit 31 Gulden 14 Kreuzer. In den Städten
wurden Suppenanstalten errichtet. In dem kleinen Murrhardt wurden täglich
250 Portionen ausgeteilt. In Untertürkheim verzichtete man auf
diese Einrichtung. Dagegen wurden 28 Kinder zur täglichen Verköstigung
unter wohlhabendere Familien verteilt. Die vorhandenen und ersammelten
Armenmittel wurden zur Anschaffung von Reis, Mehl und Brot verwendet.
Und es ist zu hoffen, daß hier niemand hat Hunger leiden müssen,
wie z. B. im Backnanger Bezirk. Von dort kamen 43 junge Leute nach
Cannstatt und wurden mit Reissuppe gesättigt. Sie sollten an Oberländer
Bauern verdingt werden und erzählten unter Tränen, daß ihre
Eltern nichts mehr haben als Fleisch von gestorbenen oder gefallenen
Pferden, das um 1 1/2-3 Kreuzer das Pfund verkauft wurde; oft haben
sie zwei Tage gar nichts zu essen. Da kochten dann die Armen Wurzeln
und Kräuter der Wiesen und des Waldes ab, um den Magen zu füllen.
Von anderen hörte man, daß sie von Welschkorn- und Kleiensuppe
ohne Milch und ohne Schmalz leben; halbkreuzerweise kaufen die Armen
Viehsalz, weil es zu rechtem nicht reiche.
Die Ernte des Jahres 1854 wurde nach Beschluß des
Kirchenkonvents und Pfarrgemeinde* rate mit einer Erntebetstunde morgens
sechs Uhr begonnen. Sie fiel gut aus. Die Garben gaben noch einmal
soviel Korn wie das Jahr vorher. Die Kartoffeln freilich waren immer
noch krank oder gaben doch wenig aus. Vor allem aber hatten die Handwerker
keine Arbeit. Die Zahl der Gantprozesse stieg von 3605 im Jahr 1847
auf 8536 im Jahr 1853. So nahm die Auswan* derung fortwährend
zu. (Sie bedeutete nicht bloß einen Menschen*, sondern auch
einen Geld* verlust, und der deutlichste Beweis für die Trostlosigkeit
der Zustände waren die fröhlichen Ge* sichter, mit denen
die Auswanderer die Heimat verließen. Der Kurs der Regierung
wurde im Lauf der Jahre immer schärfer,, namentlich der Presse
gegenüber. Übrigens wurden von 16 Be* schlagnahmen des „Beobachters" im
Jahre 1853 10 durch gerichtliches Urteil wieder aufgehoben. Der König
war voll Argwohn. Als er an Weihnachten 1854 3000 Gulden für die
Armen stif* tete, wurde dabei bemerkt, daß er es die Armen nicht
büßen lassen wolle, daß Kundgebungen stattgefunden
haben, die beweisen, daß einzelne Sr. Majestät feindlich
gesinnt seien. Aus dieser Einstellung wird es auch zu erklären
sein, daß der König am 24. August 1855 die „lammfromme
Kammer" auflöste. Bei der Neuwahl war unser Schultheiß Mäulen
nicht mehr konservativ genug, sondern ein ultrakonservativer Kaufmann
Keller wurde in den Landtag geschickt.
Die Cholera ist im Jahr 1854 von München, wo
von 1450 Erkrankten 491 starben, nach Ulm gekommen, und am 17. Oktober
ist in Cannstatt die „epidemische Brechruhr" aufgetreten. Doch
breitete sich, die Seuche nicht weiter aus. Der Herbst 1854 fiel wieder
mager aus, doch konnte das wenige zu 50—70 Gulden der Eimer verkauft
werden. Als im Landtag behauptet wurde, nach Schluß der Besenwirtschaften
(die auf drei Monate beschränkt wurden) haben die Weingärtner
keinen Wein, aber auch kein Geld mehr, wurde entgegnet, der Weingärtner
sei der anspruchloseste Staatsbürger, der bei der schlechtesten
Kost das ganze Jahr hindurch die härteste Arbeit verrichte. Im
Jahr 1854 wurde die Einführung von Diözesansynoden angeordnet,
die freilich erst durch eine Landessynode ihre Bedeutung erhielten.
Bedeutungsvoller war es, daß nun endlich das neue Volksschullesebuch
erschien, gegen das noch 1852 eine Eingabe pro* testiert hatte, da
die Bibel alles Wissenswerte enthalte.
Nachdem im Jahr 1853 die Näh- und Strickschule
durch Aufteilung einer zweiten Lehrerin etwas belebt worden war, verpflichtete
sich 1855 Karl Neff in Stuttgart, einen jährlichen Bei* trag von
100 Gulden zu leisten unter der Bedingung, daß 15 Mädchen
aus den Nachbarorten an der von der Tochter des Metzgers Kizelen geleiteten
Schule teilnehmen dürfen. Die (Schule ist allerdings schon 1858
wieder eingegangen. Als eine Art (Schlußergebnis der schlimmen
Jahre für die Gemeinde ist es anzusehen, daß die Stiftungspflege
nicht bloß die 900 Gulden, die sie hatte aufnehmen müssen,
zurückzuzahlen hatte; sondern die Königliche Kreisregierung
verlangte, daß der Geldgrundstock statt auf 3500 auf 6209 Gulden
festgesetzt werde. So mußte der Stiftungsrat sich entschließen,
jährlich 50 Gulden aufzubringen, bis der Grundstock ergänzt
sei. Auf Unterstützung der Gemeinde war nicht zu rechnen, sie
war durch die Kosten der [pag191] Uferbefestigung und des Brückenbaus
zu sehr belastet. Im Jahr 1853 war die neue Brücke mit einem Aufwand
von 80 000 Gulden fertiggestellt worden. Es war eine eiserne Gitterbrücke
nach amerikanischem Muster, die auf zwei massiven Land- und zwei schlanken
Wasserpfeilern ruhte. 1861 betrug die Brückenschuld noch 28 000
Gulden. Der Herbst 1855 war zwar wieder gering, aber der Wein war gut
und fand einen guten Preis.
Das Jahr 1856 begann so kalt, daß der Bodensee
zufror. Dagegen wurde die neugewählte Ständeversammlung vom
König aufs wärmste eröffnet und die Herren zu einem
Festessen ins Schloß geladen. Es waren offenbar nicht mehr viele
darunter, die ins Schwarze Buch gehörten, wie Ludwig Uhland, von
dem es hieß: „Als Staatsbürger war sein Ruf sehr bedenklich.
Er war Volksmann." Bunsen sagt: „Keine Kraft ohne Freiheit, keine
Freiheit ohne Maß, ohne den sittlichen Ernst und die Liebe des
Evangeliums, welche allein das Maß geben." Und bei einer Versammlung
des Gustav* Adolf* Vereins sagte einer: „Der Glaube macht selig,
nicht die Lehre. Bei den größten Unterschieden in der Lehre
kann der Glaube, das Gottvertrauen und die Liebe zu Christus in gleicher
Stärke vorhanden sein." Bei solchen Grundsätzen wäre
der Christ und Menschenfreund Gustav Werner nicht zum Kandidaten und
dann zum Seminaristen degradiert worden, weil er nicht orthodox genug
war. Der leiblichen Not der Zeit suchte die Regierung durch Ortssparvereine
zu wehren. Und der Kirchenkonvent in Gemeinschaft mit dem Pfarrgemeinderat
beschloß, daß auf allerlei Weise Junge und Alte zum Sparen
ermuntert werden sollen; auch wurden acht Vertrauensleute aufgestellt,
die kreuzerweise Einlagen annehmen und an den Agenten, wenn's ein Gulden
geworden war, abliefern sollten. Es mehrten sich nun die Anzeichen,
daß die Notzeit zu Ende gehe. Schon im Dezember 1856 las man: „Handwerks» burschen
werden selten gesehen, der Bettler ist beinahe verschwunden. Statt
der Arbeitslosigkeit ist Mangel an Arbeitern bei den kleinen Gewerben
wie bei den Fabriken. Die Steuerkraft wächst, dem Volke wird es
wieder wohler." Und das Jahr 1857 wurde so gut und reich gesegnet,
daß es im Herbst hieß, noch nie sei so viel Arbeit gewesen,
der Mangel an Arbeitskräften sei so groß, daß die
Löhne von selbst auf das Doppelte steigen, und zwar nicht bloß in
der Landwirtschaft, sondern auch das Handwerk blühte nun auf,
und in Untertürkheim wurde von Fladt und Vöhringer eine gewerbliche
Fortbildungsschule mit 30—40 Schülern ins Leben gerufen.
Zur Aufnahme der Apotheke wurde das Anwesen an der Ecke Cannstatter
und Lange Straße um 8300 Gulden von den Erben des Amtmann Brodbeck
erworben. Auf die Höhe kam das Jahr 1857 mit dem reichgesegneten
Herbst, dem ersten wirklich guten der fünfziger Jahre, auch 1858
gab es sehr viel und guten Wein und 1859 ziemlich viel und guten. Beim
Untertürkheimer Faßmarkt wurde ausverkauft, und „Buben
und Mädchen tanzten unter großem [pag192] Jubel auf
der Straße um eine ungeheure
Traube, wie man sie nicht alle Jahre um diese Zeit auftreiben kann".
Die Weinberge waren eben von allem, was dem Weine schaden kann, verschont
geblieben. In der Hauptstadt gab es in diesem Herbst auch sonst noch
Umtrieb. Am 22. September wurde der neunte Kirchentag von Bethmann=Hollweg
eröffnet. „Das wahre Christentum besteht in der Einigung
der Konfessionen in dem Geist der Liebe trotz aller Verschiedenheit
der Form und des äußeren Kultus." In diesem
Sinn wäre
eine Nationalkirche keine Utopie. Das Volksfest des Jahres 1857 bekam
nicht nur durch den in Aussicht stehenden guten Herbst und den herrlichen
Sonnenschein, sondern auch dadurch besonderen Glanz und Zulauf, daß auf
demselben der russische Kaiser Alexander II. und der französische
Napoleon III. erschienen. Der König traf seinen alten Freund Warth
auf dem Volksfest und sagte zu ihm : „Da ist man doch im tiefsten
Frieden, wenn die Fürsten so beieinander sind." „Majestät,
dem Franzosen traue ich nichts Gutes zu. Es ist halt ein Franzos." Ärgerlich
wandte sich der König ab. „Desmol hau e eibüßt." Als
aber 1859 der Krieg zwischen Österreich und Sardinien und Frankreich
ausgebrochen war, sagte der König, als er den Warth wieder traf: „Herr
Warth, ich hab's Ihnen übelgenommen, aber Sie haben recht gehabt",
und streckte ihm die Hand hin. Bartholomäus war auch Königlicher
Weingartmeister. In den schlechten fünfziger Jahren befahl der
König, alles herauszuhauen und Clevner zu legen. Warth legte aber
nur unten etliche Gräben. Als 1857 das gute Weinjahr kam, wollte
der König die Neuanlage sehen. Den Hofkammerräten war es
angst. Warth aber führte den König zu den Clevnern, die recht
wenig Trauben haften, dann die Stäffele hinauf, und auf dem Riegelberg
hatte es Trauben die Menge, daß der König sich nicht genug
daran freuen konnte. Dann beichtete der Weingartmeister, daß er
den Erlaß nicht befolgt habe, und der König sagte: „Es
freut mich" und befahl den Hofkammerräten, sie sollen Warth nur
machen lassen, „der macht's recht". Der König hielt dann
1857 eine Herbstfeier und stellte der Hofgesellschaft, bei der auch
die Königin der Niederlande war, seinen Weingartmeister und alten
Kriegskameraden vor. Es wurde im „Reibhäusle" abgekocht,
und Militärmusik spielte auf. Beim letzten Herbst im Jahr 1863
wurde der König ohnmächtig, und Warth ließ schnell
aus dem Mönchskeller Champagner holen, sie hatten aber nur Malaga.
Der König dankte ihm dann für seine Fürsorge mit einem
Korb Rieslingweinflaschen.
Im Jahr 1859 stiftete die hier wohnende Wilhelmine
Roth 250 Gulden, deren Zins auf Weihnachten an Dienstmädchen von
Unter- und Obertürkheim ausgeteilt werden sollte, die mindestens
vier Jahre lang derselben Herrschaft treu und zur Zufriedenheit gedient
hatten. Die Stiftung ist wie alle andern durch die Inflation auf ein
Minimum herabgesetzt worden und muß erst allmählich wieder
durch Zinseszins sich erholen. Eine recht angesehene Stellung hat sich
Schulmeister Fladt in der Gemeinde geschaffen. Nachdem Schulmeister
Koch, dem es nicht mehr recht gelingen wollte, die Disziplin aufrechtzuerhalten,
sich zur Ruhe gesetzt hatte, übernahm er die Oberklasse, und schon
bei der Martinivisitation 1859 trat der Unterschied zum Teil auffallend
hervor. Besonders sah man an der Ruhe und Ordnung der Schüler,
daß ein anderer Geist in der Schule herrschte. Auch in der Sonntagsschule
konnte ihm die Zufriedenheit mit seinem Fleiß und der energischen
Behandlung der jungen Leute ausgesprochen werden. Zwölf Sonntagsschüler,
die sich in der Kirche unbotmäßig aufgeführt hatten,
wurden von ihm dem Kirchenkonvent gemeldet, der ihnen einen ernstlichen
Verweis gab, und ein besonders schlimmer, der seine Frechheit auch
dem Kirchenkonvent gegenüber bewahrte, wurde mit sechs Stunden
Arrest bestraft. Im Winter 1860/61 rief Fladt eine Privatmittelschule
ins Leben, für die ihm die mit Steinkohlen geheizten Schulzimmer überlassen
wurden. Es war eine Art Nachhilfe oder Fortbildung, namentlich im Rechnen,
für die man etwa alle 14 Tage einen Groschen zahlte. "Mer got
ins privat", hieß es. Auch Rekrutensingstunde hielt er. Damit
die Rekruten, die gewohnt waren, den Winter über zweimal in der
Woche im Ort herumzusingen, nicht immer das gleiche Lied vom Franzosenschlagen
hören ließen, lehrte er sie zweistimmige Volkslieder Singen
gegen eine gewisse Entschädigung. Dekan Heyd hatte schon im Anfang
des Jahres 1860 die Gemeinde zur Gründung eines Orgelfonds durch
eine Hauskollekte aufgefordert. „Nach den [pag193] letzten Segensjahren
dürfte wohl manches Herz sich geneigt zeigen, das Haus des Herrn
mit einer neuen Orgel zu schmücken." Als im Lauf des Jahres im
Oberamt Besigheim ein schweres Hagelwetter niederging, wurde aber im «September
für die Hagelbeschädigten eine Hauskollekte veranstaltet,
die von je zwei Mitgliedern des Gemeinderats, des Pfarrgemeinderats
und des Bürgerausschusses gesammelt wurde und 111 Gulden ergab.
Gleichwohl wurden für die Abgebrannten in Thuningen noch 36 Gulden
und für die von den Türken heimgesuchten syrischen Christen
58 Gulden geopfert. Die Apothekengerechtigkeit wurde 1860 Julius Sallmann
aus Stuttgart übertragen. Im Jahr 1860 fiel der Herbat ganz gering
aus. 1861 wurde das wenige, das gewachsen war, doch recht gut, und
1862 hatte es zuerst ganz schlimm ausgesehen, dann bekam man doch noch
viel und guten Wein. Und nach diesem unerwartet gesegneten Herbst wurde
nun eine Hauskollekte für die neue Orgel veranstaltet.
Im Jahr 1861 verwarf der Landtag mit 63 gegen 27 Stimmen
die Konvention, die der König 1857 mit dem Papst abgeschlossen
hatte. Dafür wurden durch Gesetz vom 30. Januar 1862 die Verhältnisse
der katholischen Kirche auf dem Weg der Landesgesetzgebung geordnet.
Daß eine neue Zeit gekommen war, zeigte auch die Einführung
der Gewerbefreiheit, die auch hier mit Begeisterung begrüßt
wurde. Die Handwerkslehrlinge mußten entweder die Sonntagsschule
besuchen, die im Sommer am ersten Sonntag des Monats, im Winter zweimal
in der Woche als Winterabendschule gehalten wurde, oder die Gewerbeschule,
die am Sonntag im Zeichnen unterrichtete, aber bezahlt werden mußte.
Das Jahr 1863 war ein Segensjahr, „das uns
die Güte Gottes in ausgezeichnetem Maße hat erfahren lassen",
während sieben Gemeinden des Oberamts Künzelsau durch Hagelschlag
und Überschwemmung schwer gelitten haben. Das Jahr 1864 machte
die Herzen mitleidig mit den um ihres Deutschtums willen verfolgten
und mißhandelten Schleswig-Holsteinern. Auch hier hörte
man überall das „Schleswig-Holstein meerumschlungen" singen.
Der Schreiner Reichert war als Freiwilliger im preußischen Heer
bei Erstürmung der Düppeler Schanzen gewesen und rühmte
sich, was die Freiwilligen für Draufgänger gewesen seien,
da habe es allemal nur geheißen : „Mutwillige vor!" Die
Gemeinde bewies ihre Teilnahme für die Schleswig-Holsteiner durch
eine für sie gesammelte Hauskollekte. Am 25. Juni 1864 starb auf
seinem Landhaus Rosenstein der greise König Wilhelm, der älteste
der deutschen Fürsten, ein Vater des Landes, der „König
der Landwirte". Er hat es in weitgehendem Maße wahr gemacht,
was er bei seinem Regierungsantritt versprochen hatte, daß die
Wohlfahrt seiner Untertanen das einzige Ziel seiner Bemühungen
sein werde. Von seinen freiheitlichen Anfängen ist er, allerdings
zunächst gezwungen, ziemlich weit abgekommen und hat auch die
durch die Revolution endlich erreichte Preßfreiheit nachher wieder
aufgehoben. Seine Bestattung neben seiner Gemahlin Katharina in der
Kapelle auf dem Rotenberg sollte in aller Stille geschehen. So ist
der Sarg des Königs unter den Klängen der Musik seiner Garde
(bei der der alte Ehmann gedient hat) nachts zwölf Uhr durch den
Ort geführt worden, und die Untertürkheimer haben in der
schlichten Art der Zeit zum Zeichen der Trauer ihre Häuser beflaggt,
indem sie schwarze Tücher an Stecken banden und als Trauerflaggen
heraushängten. Ein Kanonenschuß vom Berg herab kündete
an, daß nun der König in der Gruft beigesetzt sei.
König Karl berief an Stelle des reaktionären
Ministers Linden Varnbüler und 1866 Mittnacht, der durch viele
Jahre sein treuer Ratgeber gewesen ist. Er hat auch seinem Volk die
Freude gemacht, den unwürdigen Zwang der Preßzensur aufzuheben.
Die württembergischen Truppen kehrten aus dem schleswig-holsteinischen
Krieg unverrichteter Dinge zurück, da Österreich und Preußen
alles ohne das Bundeskontingent machten. In dieser Zeit kam auch die
Rathausuhr zurück. Nach dem großen Brand in Gschwend hoffen
die Untertürkheimer großmütig ihre Rathausuhr den Gschwendern
geschickt, die sie als geliehen ansahen und nun mit Dank zurückerstatteten.
Im Jahr 1864 wurde die Kirche frisch verblendet oder kann man sagen
: in der Verblendung haben die Untertürkheimer die Quadersteine
angestrichen, die doch ohne Auftrieb schöner sind. Auch die Fenster
wurden erneuert. Und der Pfarrgemeinderat, dessen Wirkungskreis so
gar gering war, verpflichtete sich, während des Gottesdienstes
den altgewohnten Umgang [pag194] wieder aufzunehmen. Dabei machten
Sie die Wahrnehmung, daß während des Gottesdienstes die
Läden offen waren, die Mägde Wasser holten und die Kinder
sich auf der Straße herumtrieben. Ja selbst der Karfreitag und
das Osterfest wurden durch Arbeit entheiligt.
Im Jahr 1865 wurden die Lehrerbesoldungen neu festgesetzt.
Der erste Lehrer erhielt 475 Gulden, der zweite 450 und 100 Gulden
Wohnungsgeld, der dritte 400, der Unterlehrer 260 und der Lehrgehilfe
170 Gulden. Für die anzustellende Industrielehrerin wurden 235
Gulden und freie Wohnung in dem zu bauenden Schulhaus vorgesehen. Die
zwei Organisten mußten sich in den Zins einer Stiftung von 500
Gulden teilen. In den neueingerichteten Ortsschulrat traten außer
den Schulmeistern Decker und Fladt als Ortsschulräte Johannes
Münzenmayer und Schlosser Hummel ein. Im Kriegsjahr 1866 wurde
dann das neue Schulhaus gebaut mit zwei Schulsälen und zwei Lehrerwohnungen
und einer Wohnung für die Industrielehrerin im Dachstock. Als
solche wurde 1867 Margarete Bloch angestellt. Mit der Fertigstellung
der Lehrerwohnungen kam dann auch die Anstellung eines dritten Schulmeisters
Schlienz, und in den Ortsschulrat trat ein drittes Mitglied Hammer
ein. An die Stelle des verstorbenen Mesners Hummel wurde sein Sohn
gewählt.
Als der Krieg ausbrach, wurde am 23. Juni, morgens
sechs Uhr, eine außerordentliche Betstunde gehalten, auch wurde
ein Sanitätsverein gegründet, der Gaben für Verwundete
sammelte, und Scharpie gezopft. Sonst hat der Krieg auf das Leben der
Gemeinde nicht weiter eingewirkt. Dagegen kamen nach Beendigung des
Krieges zwei Schwadronen Reiter auf sechs Wochen hierher ins Quartier,
bei denen Kronprinz Wilhelm als Leutnant stand. Er war als Urkundsperson
beim Löhnungsappell, bei dem der Mann 10-11 Gulden Kleinmontierungsgeld
bekam, und der Achtzehnjährige ermahnte die Reiter zur Sparsamkeit.
Der Hauptmann dagegen ermahnte sie zum Tanzen bei der Untertürkheimer
Kirbe. Er ließ 50-60 Flaschen Champagner kommen und regalierte
seine Reiter damit. Die hatten es bei den Untertürkheimern sehr
gut gehabt. Den Rotenbergern aber haben sie ihre Kirbetrauben gestohlen.
Beim Abzug hielt der Hauptmann eine Rede und ließ die Untertürkheimer
hochleben.
Auch ein Zeichen der neuen Zeit war es, daß der
Stiftungsrat beschloß, die freiwerdenden Kirchenstühle nicht
mehr zu verkaufen oder zu verpachten. Eine neuzeitliche Einrichtung,
die doch sehr wenig geeignet war, eine neue Zeit heraufzuführen,
war der Pfarrgemeinderat, dessen Stellung und Wirkungskreis so unbefriedigend
war, daß die Untertürkheimer ganz neuzeitlich streikten.
Bei der Pfarrgemeinderatswahl am 18. November 1866 erhielt Gemeindepfleger
Jakob Warth 33 Stimmen (bei etwa 400 Wahlberechtigten), Heinrich Zais
31, Alt Johannes Wörz 26, Gottlieb Schwarz 23. Alle vier lehnten
einstimmig die Wahl ab im Einverständnis mit den vier nächsten,
die 5-11 Stimmen bekommen hatten und als Ersatzleute zu fungieren gehabt
hätten. Bei dem kleinen Wirkungskreis des Pfarrgemeinderats habe
die ganze Sache keine Bedeutung. So mußte bis 1869 der Kirchenkonvent,
der ja nebenher bestand, für den nicht mehr bestehenden Pfarrgemeinderat
eintreten. Merkwürdig reich waren die sechziger Jahre an Stiftungen.
Zu der Rothschen kam 1864 die Schönlinsche mit 200 Gulden. Dekan
Heyd stiftete 150 Gulden zum Andenken an seine verstorbene Frau. 1866
wurden 300 Gulden zum Andenken an J. Zinsers Witwe gestiftet. Das alles
für die Armen, und 1867 stiftete die Tochter des Hirschwirts Lausterer
1000 Gulden für Konfirmanden. Auch diese Stiftungen müssen
aus dem dürftigen Rest, den die Inflation übriggelassen hat,
sich wieder aufbauen.
Im Jahr 1867 wurde der viel bewunderte neue Bahnhof
in Stuttgart eingeweiht. Als Napoleon III. bei seiner Durchreise lebhaft
begrüßt wurde, erklärte nachher Minister Varnbüler: „Aber
der letzte Mann und der letzte Groschen, wenn's gegen Frankreich geht." In
diesem Jahr wurde das allgemeine Wahlrecht von 1849 für den Landtag
Gesetz, und Württemberg ging damit den andern Staaten voran und
hat so wieder einmal die Reichssturmfahne vorangetragen. Das Jahr war
naß, und der Wein wurde nicht viel, dagegen gab es massenhaft
Obst. Als die Kirbe kam, mahnte der Pfarrer: „Lasset bei dem
aufs neue uns reichlich geschenkten Segen nicht Tag und Nacht aufeinander
folgen, welche mit Unmäßigkeit und Mißbrauch der Gaben
Gottes in Saus und Braus zugebracht werden!"
[pag195] Bei der Ortsschulratswahl des Jahres 1868
stimmten von 182 Wahlberechtigten 10 ab. So mußte der Ortsschulrat
die nächsten drei Jahre ohne gewählte Mitglieder sein, und
der Kirchenkonvent "traf wieder in seine Rechte und Pflichten als Ortsschulrat
ein". Als dann aber im Jahr 1872 wieder eine Wahl vorgenommen wurde,
waren es trotz wiederholten Läutens mit der Rathausglocke gar
nur zwei, die sich zur Abstimmung bemühten. (Die Ratbausglocke
wurde sonst nur beim Steuereinzug geläutet, da läutete sie
oft der Bürgermeister selbst. Wenn der Polizeidiener Jakob Beurer
aus seinem Steinbruch am Diebach oder sonst woher herbeigerufen werden
sollte, wurde nur die Glocke fünf bis sechsmal angeschlagen.)
Zu einer gültigen Ortsschulratswahl kam es erst 1874. Da hatten
auch bloß 5 von 257 Berechtigten abgestimmt. Nun wurde aber die
Wahl angefochten, und dadurch kam Leben in die Wähler, und bei
der neuangesetzten Wahl gelang es 101 Stimmen, also mehr als das gesetzliche
Drittel, zusammenzubringen. Es wurden der Weingärtner Gottlieb
Rühle, David Paule und der Holzhändler und Gemeinderat Wilhelm
Stierlen gewählt. Als dann später im Jahr 1884 die Wahl wieder
ergebnislos blieb, trat auch, wieder der durch die drei Lehrer verstärkte
Kirchenkonvent in die Funktion ein. 1890 stimmte von 297 Wahlberechtigten
gar niemand ab.
Dekan Heyd war im September 1868 gestorben, und sein
Vikar Gerok wurde Pfarrverweser, bis am zweiten Epiphaniensonntag 1869
Pfarrer Gottlob Friedrich Haußmann ins Amt eingesetzt wurde.
In der ersten Sitzung, an der er teilnahm, wurden von den Kollegien
Stiftungspfleger Paule und Schulfondspfleger Brodbeck auf 6 Jahre wiedergewählt
und beschlossen, eine Kleinkinderschule einzurichten. Die als Privatschule
1850 eingerichtete Kinderschule war wohl in den Notjahren eingegangen.
Die neuerrichtete wurde nach Ostern eingeweiht. Sie war zunächst
in einem Schullokal untergebracht und für Kinder vom fünften
bis siebten Jahr bestimmt als eine Art Vorbereitung auf die Volksschule.
Die Heppacher Schwester sollte den Kindern die Anfangsgründe des
Schulunterrichts beibringen, und erst mit 7 Jahren sollten die Kinder
in die Volksschule aufgenommen werden. Im Jahr 1871 wurde auch den
Vierjährigen der Eintrittritt in die Kinderschule gestattet. Die
1867 angestellte Industrielehrerin sollte auch Elementarunterricht [pag196]
an der Volksschule geben. Die Folge war, daß die Industrieschule
trotz aller Mahnung immer schlechter besucht wurde, bis sie 1872 vollends
einging und man nun eine Lehrerin suchte, die am Mittwoch und Samstag
den Volksschülerinnen Arbeitsunterricht
geben sollte.
Mit der Einrichtung der Kinderschule wurde auch eine
Neuordnung der Volksschule verbunden. In den oberen Klassen wurden
die Geschlechter getrennt. Aufsichtslehrer Bühler, der an die
Stelle des verstorbenen Schulmeisters Decker getreten war, übernahm
die Mädchen, Fladt die Knaben. Schulmeister Deckers Lieblingsfach
war das Rechnen gewesen. Er brachte es bis zu der Berechnung von Kreisen
und Ellipsen. Pfarrer Haußmanns Tätigkeit war eine sehr
kurze. Schon im Juni mußte er sich durch Vikar Blessing vertreten
lassen, und bald darauf starb er. Erst kurz vor Ausbruch des Krieges
zog sein Nachfolger Pfarrer Karl August Staudenmaver auf. Die Gemeinde
zählte jetzt etwa 2500 Seelen. Es mußten aber doch bloß 48
ausrücken, von denen einer, Gottlieb Hahn, an seinen Wunden, ein
zweiter, Jakob Gugeler, an Krankheit gestorben ist. Am 30. Juli wurde
ein Buß- und Bettag und von da an wöchentlich zwei Kriegsbetstunden
gehalten, an denen sich auch der Männergesangverein beteiligte.
Diese Kriegsbetstunden benützte Pfarrer Staudenmaver auch, um
seine Gemeinde über den Gang des Kriegs, Gefechte, Schlachten
und Verluste auf dem Laufenden zu halten. Im Ort bildete sich ein Sanitätsverein.
Scharpie, Binden, Leintücher, Kleidungsstücke wurden vom
Wundarzt Held gesammelt. Die Frauen der Ausmarschierten wurden unterstützt.
Ein Haus mit einem schönen Garten (das Dr Feldmannsche an der
Wilhelmstraße) wurde als Reservespital eingerichtet, in dem eine
Helds die Köchin machte. Privathäuser nahmen Leichtverwundete
auf. Eine Kollekte für den Sanitätsverein ergab 482 Gulden,
später eine Hauskollekte 400 Gulden. Im ganzen kamen 1300 Gulden
zusammen. Die ersten Pfleglinge waren sieben verwundete Württemberger;
auf sie folgten dann andere aus Norddeutschland. Das Christfestopfer
wurde zu einer Weihnachtsgabe für die Ausmarschierten verwendet.
Bei der kirchlichen Friedensfeier März 1871 wurde ein Festzug
mit der Schuljugend vom Rathaus zur Kirche veranstaltet. Im Oktober
1870 war der Landtag aufgelöst worden. Einer hatte gegen Teilnahme
am Krieg gestimmt, 37 mit Ja, weil das Land bedroht sei. Durch die
Neuwahl im Dezember sank die Opposition auf 15, teils Demokraten, teils
Ultramontane. Gleich nach Friedensschluß wurde für die Elsaß-Lothringer
gesammelt, Geld und Lebensmittel, namentlich Kartoffeln.
In der Adventszeit 1871 wurde eine Subskription für
Einrichtung einer Kirchenheizung eröffnet, die so gut ausfiel,
daß schon in demselben Winter 1871/72 die Heizung eingerichtet
werden konnte. Das Wachstum der Gemeinde in den siebziger Jahren, zu
dem jedenfalls auch das 1871 beschlossene Gesetz über Freizügigkeit
und Unterstützungswohnsitz beigetragen hat, kann man abnehmen
an der Vermehrung der Schulstellen. 1874 wurde eine fünfte Lehrstelle
nötig, 1880 eine sechste. Das neue Reich brachte allerhand Neuerungen
: vor allem gemeinsames Maß und Gewicht nach dem Metersystem
; 1875 die Markwährung. Der Taler 3 Mark, der Gulden 1 Mark und
71 Pfennig, die zierlichen Silberkreuzerle verschwanden (der Kreuzer
3 Pfennig), dagegen gab es zierliche silberne 20-Pfennig-Stücke.
Das entsprach beinahe dem allgemeinen Aufschwung des Geschäfts
und der Löhne, den die fünf französischen Goldmilliarden
ins Land brachten. Während die Untertürkheimer beim Graben
des Liederhallekellers noch 48 Kreuzer verdienten, wenn sie von 5 Uhr
morgens bis 7 Uhr abends in ihren Butten die Erde heraustrugen, stiegen
Anfang der siebziger Jahre die Löhne so, daß ein Maurer
bis zu 5 Gulden im Tag verdiente. Als Obermedizinalrat Elsäßer
das ,,Schlößle", die heutige Kinderkrippe, baute, arbeiteten
hiesige Feldmaurer daran im Akkord, und weil sie gewohnt waren, fleißig
zu arbeiten, hatten sie es auf 7-8 Gulden im Tag gebracht, wenn man
nicht den Lohn gekürzt hätte. Man sagte damals: "Die Maurer
zünden ihre Zigarre mit 5-Mark-Papierle an." An Industrie war
bisher nichts hier gewesen als zwei Gipsmühlen. 1874 wurde die
erste Fabrik gegründet, die Kunststeinfabrik von Krutina & Möhle.
Sie machten zunächst hauptsächlich Rohre. 1879 wurde der
obere, größere Bau ausgeführt.
Mit schwerem Herzen nahmen die kirchlichen Kreise
die Einführung der Zivilehe auf; auch dem alten Kaiser ist es
schwergefallen, seine Zustimmung zu geben. 1876 wurden die Standesämter
[pag197] eingerichtet und den Pfarrern die Führung der standesamtlichen
Register abgenommen. Am 12. Januar 1876 fand in Stuttgart die erste
Ziviltrauung statt. In Preußen war der Kulturkampf ausgebrochen.
Bischof Ketteler sagte. ,,Machen Sie keine Gesetze, die Rebellen sind
gegen Gottes Gesetz, dann werden wir Bischöfe auch gegen die Landesgesetze
nicht rebellieren." Bismarcks stolzes Wort : "Nach Kanossa gehen wir
nicht !" ist nicht wahr geworden. Aber erst 1887 ist der Kampf, der
der römisch-katholischen Kirche, vor allem aber dem Zentrum, eine
ungeheure Stärkung brachte, endgültig beigelegt worden. Mitte
der siebziger Jahre brach der schwindelhaft gewordene Aufschwung der
Industrie mit einem großen Krach zusammen, und nun trat an die
Stelle der hohen Löhne Arbeitslosigkeit. 1875 wurde in Gotha die
Sozialistische Arbeiterpartei gegründet, die sich später
Sozialdemokratische Partei nannte. Gegen sie wurde nach den Attentaten
von Hödel und Nobiling 1878 das Sozialistengesetz erlassen, das ähnlich
wirkte wie der Kulturkampf: Märtyrer machte und die Erbitterung
und Kampflust vermehrte und die Partei stärkte.
Auf den vorzüglichen Herbst des Jahres 1868 folgten
mindere. 1873 erfroren die Berglagen, aber der Wein galt 100 Gulden
der Eimer. 1874 erfroren die niederen Lagen, und die Rotenberger hatten
den reichsten Obst- und Weinsegen. Ein ganz schlimmes Jahr war 1877.
Da hingen die Stöcke so voll wie 1868. Dann kam während des
Volksfestes ein Frost, der alles verderbte. In einem ganzen Wengert
fand man kaum ein paar reife Portugieser. Man suchte von den weicheren
Trauben einen Wein zu machen, aber es gab etwas ganz Saures, Raßmann
hieß mau diesen Wein. So blieb nichts übrig, als die Trauben
zu Schnaps zu verwenden. Das Jahr 1881 war nicht schlecht, ebenso das
Jahr 1884, aber da ging der Verkauf nicht. Als Weinmarkt gehalten wurde,
wurden von 600 Eimern 25 verkauft. 1883 hat der Hagel den Herbst vernichtet.
Auf eine Anregung der Diözesansynode des Jahres
1875 hin wurde vom Pfarrgemeinderat, der seit 1869 wieder bestand,
beschlossen, die Ausbildung freiwilliger Krankenpflegerinnen einzuleiten
und sich an der Anstellung einer Bezirkskrankenpflegerin zu beteiligen.
Die Anstellung einer eigenen Gemeindediakonissin wurde 1879 für
unmöglich erklärt und 1881 von einer Bürgerversammlung
ausdrücklich abgelehnt, dagegen die Einrichtung getroffen, daß an
arme Kranke regelmäßig Kost verabreicht wurde. Im Jahr 1876
wurde die Kirche im Innern restauriert und die Kirchenstühle neu
gestrichen. 1879 trat Pfarrer Staudenmaver in den Ruhestand Pud an
seine Stelle Pfarrer Dr. Adolf Schmidt. In demselben Jahr wurde nach
dem Tod des altbewährten Schultheißen Mäule Eduard
Fiechtner zum Ortsvorstand gewählt. Damit war der Mann an die
Spitze des hiesigen Gemeinwesens getreten, der mit großer Klugheit
und Energie, weitsichtig und tatkräftig, sein Ziel mit unerschütterlicher
Folgenrichtigkeit verfolgend, der Gemeinde selbstlos gedient, und kurz
gesagt, aus dem schlichten Weingärtnerort einen weltberühmten
Sitz der Industrie und eine begehrenswerte Vorstadt Stuttgarts gemacht
hat. In welcher Weise sich die industrielle Entwicklung ausgewirkt
hat, mag die Statistik zeigen. Die Bevölkerung wuchs von 1890
bis 1925 von 3722 auf 9324, die Zahl der Wohngebäude von 366 auf
682. 1925 gab es 839 männliche und weibliche landwirtschaftlich
Erwerbstätige, dagegen in Industrie und Handwerk 3107, Handel
und Verkehr 1082. Ganz charakteristisch ist die Veränderung der
Tierhaltung. 1892 hatten die Untertürkheimer noch 346 Stück
Rindvieh, dazu 344 Schweine, nur 100 Ziegen und 1268 Stück Geflügel.
Bis 1925 war die Viehhaltung auf 74 Stück gesunken, nur noch 115
Schweine, dagegen 349 Ziegen und 3144 Stück Geflügel. Der
Winter 1879/80 brachte eine seit 1829/30 nicht rnehr erhörte Kälte.
Im Dezember hatte es 24 Grad Reaumur. Der Neckar bekam Grundeis, und
als das Eis brach, lief er über, so daß in der Mühlstraße
das Wasser zu. den Fenstern hereinlief und noch in der Cannstatter
Straße das Wasser stand. Es wäre noch höher gestiegen,
wenn nicht in Wangen die Dämme gebrochen wären. Dabei verlor
ein Jude, der nach Stuttgart fahren wollte, seine beiden Pferde, er
selbst rettete sich auf einen Baum. Das Hochwasser im Dezember 1882
stieg nicht so hoch, dagegen blieb mehr Eis im Tal liegen.
[pag198] Mit der Einrichtung einer sechsten Lehrstelle
mußte die Kleinkinderschule aus dem Schulgebäude weichen,
nicht zum Schmerz der Lehrer. Es war immer schwierig gewesen, eine
Störung des Unterrichts durch den Lärm der Kinderschüler
zu vermeiden. Im Juni des Jahres 1880 wurde eine neue, von Orgelbaumeister
Schäfer in Heilbronn gebaute Orgel mit 21 klingenden Registern
in unserer Kirche aufgestellt und im Zusammenhang damit die Orgelempore
vorgerückt. Nach der Pensionierung des Schulmeisters Bühler,
Anfang 1882, wurde auf Antrag der Ortsschulbehörde die Stelle
nicht ausgeschrieben sondern die Lehrer Fladt, jetzt zum Oberlehrer
gewählt, Schlienz und Dußler rückten vor, und eine
siebte Schulstelle und die Anstellung einer Industrielehrerin wurden
beschlossen, "um der weiblichen Tugend die längst vermißte
Gelegenheit zu gründlicher Erlernung der verschiedensten weiblichen
Handarbeiten zu bieten". Als Arbeitslehrerin wurde dann Karoline Haas
angestellt und ihr das Lehrerzimmer für den Unterricht eingeräumt.
Um den nötigen Raum zu gewinnen, wurde die Amtswohnung Bühlers
in zwei Lehrsäle und ein Lehrerzimmer umgebaut. Die Kleinkinderschule
fand ihre Stätte in dem Gebäude hinter dem Rathaus, dessen
Dachstock, als Lehrerwohnung benützt, später Schwesternwohnung
wurde. In dem Schulsaal durfte auch der Jünglingsverein, der seit
1881 aus kleinen Anfängen herangewachsen war, am Sonntag von 4
bis 5 Uhr zur Bibelstunde zusammenkommen. Für die Benützung
des Saales durch die Jugend von 6 bis 8 Uhr war Voraussetzung, daß "für Überwachung
ganz genügend gesorgt" wurde. Der Jünglingsverein hat sich
auch bei der Lutherfeier des Jahres 1883 beteiligt und vor der Kirche
eine Eiche gesetzt, die aber draufgegangen ist.
Am 5. Juli ergoß sich über die Markung
ein Wolkenbruch, der solche Wassermassen aus den Weinbergen hervorbrechen
ließ, daß "im Grün" draußen die Quadersteineinfassung
auf die Bahngeleise geworfen wurde und der Zug halten mußte,
bis sie weggeräumt waren. Auf den Wolkenbruch folgte dann am 10.
Juli ein schweres Hagelwetter, am schlimmsten am Daimlerweg, das eine
solche Verheerung anrichtete, daß im Pfarrgemeinderat extra beschlossen
werden mußte, die Erntebetstunde doch zu halten, "da ein Ausfallenlassen
wegen des Hagelschlags sich nicht rechtfertigen ließen. Im Jahr
1885 wurde die Trikotfabrik von Veitinger, später Rudolf Behr & Cie.,
hier eingerichtet, der dann 1887 die Straussche Bettfedernfabrik folgte.
Mit der vermehrten Arbeitsgelegenheit wuchs die Einwohnerzahl und begann
eine rege Bautätigkeit. Es ist in Untertürkheim von jeher
so gewesen, daß Kinder, die im elterlichen Haus keinen Platz
fanden, deshalb doch nicht aus dem Ort weggingen, weil es doch "nur
ein Untertürkheim gibt" und nirgends so schön ist wie da.
Im Lauf der achtziger und neunziger Jahre wurde eine Reihe von Straßen
eröffnet oder verlängert und ausgebaut. Aus dem 2 Meter breiten
Feldweg, der Sattelfurche, wurde die Wilhelmstraße. Zu dem Seybothenschen
Haus, dem alten Kindergarten, in dem die Tochter des Oberjustizrats
von Seybothen wohnte, gehörte ein mehrere Morgen großer
Garten, der bis zur Wilhelm- und Urbanstraße reichte und allmählich überbaut
wurde. Damals bekam mau den Quadratmeter noch um 4-5 Mark. Der Platz
um die Kirche wurde 1885 verschönt durch Anpflanzung von Bäumen,
die Pfarrer Schmidt zum Teil stiftete. Im folgenden Jahr wurde das
Kirchendach vollends ganz mit Falzziegeln statt der Hohlziegel gedeckt.
Das Kränze- und Girlandenflechten für die Konfirmation hatte
Anlaß gegeben, daß Knaben und Mädchen sich zu allerlei
Kurzweil und Bossen zusammentaten. Es wurde deshalb auch aus Wunsch
des Ortsvorstehers das Aufhängen von Girlanden der ganzen Emporkirche
entlang verboten. Es sollte genügen, wenn am Altar der Bogen angebracht
und einzelne Kränze an der Emporkirche aufgehängt wurden.
Der Friedhof war bisher vom Totengräber als Weide für seine
Kühe benützt worden. Auf den Gräbern standen einzelne
Holzkreuze, auf vielen aber nur Rosenbüsche. Der Friedhof enthielt
so viel Rosen, daß der Totengräber Säcke voll Rosenblätter
nach Stuttgart liefern konnte. Unten im Friedhof standen Zwetschgenbäume,
auf den Gräbern außer den Rosenbüschen auch andere
Sträucher und Bäume. Alles war aber sehr verwildert, und
die Grabdenkmäler waren zum Teil ganz verdeckt. Auf Antrag des
Otsvorstandes wurde nun 1887 vom Stiftungsrat beschlossen, den Friedhof
säubern und in einen geordneten Zustand bringen zu lassen, auch
eine Friedhofsordnung aufzustellen, um gegen Ungehörigkeiten und
Unordnungen wirksam einschreiten zu können.
[pag199] Im Jahr 1879 hatte Bismarck sich von den
Liberalen abgewendet und mit Hilfe des Zentrums, das er durch Abbau
der Maigesetze günstiger gestimmt hatte, den Schutzzoll eingeführt.
1881 begann die soziale Gesetzgebung als positive Leistung neben dem
Sozialistengesetz. Die kaiserliche Botschaft kündigte an, daß man
die Teilung der sozialen Schäden durch Forderung des Wohls der
Arbeiter erreichen wolle. Mit dem Jahr 1883 begann die koloniale Ära.
1887 kam es zum endgültigen Friedensschluß mit Rom. Das
Zentrum stimmte allerdings trotz des Wunsches des Friedenspapstes Leo
XIII. nicht für das Septennat, enthielt sich aber der Abstimmung.
In der evangelischen Kirche mußte 1886 der Evangelische Bund
zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen gegründet
werden. Im Dreikaiserjahr 1888 übernahm der neunundzwanzigjährige
Kaiser Wilhelm II. das Erbe seines Vaters und Großvaters. Dieser
hatte einst auf das Entlassungsgesuch Bismarcks mit einem Niemals !
geantwortet, und sein Enkel erklärte auch, daß er den Rat
Bismarcks nicht entbehren möchte, aber Bismarck täuschte
sich nicht darüber, daß Wilhelm II. sein eigener Kanzler
werden wolle. Von der Kaiserin sagte Bismark: "Ich habe mich mit vier
Königinnen zurechtfinden müssen und weiß daher die
jetzige doppelt zu schätzen. Sie ist einfach weiblich im guten
Sinn und ganz ohne Falsch. "Am 20. März 1890 wurde dann Bismarck
entlassen und General von Caprivi trat an seine Stelle. Er schloß einen
für England sehr günstigen Vertrag über Ostafrika, durch
den wenigstens Helgoland deutsch wurde. Den Rückversicherungsvertrag
mit Rußland hat er nicht erneuert. So kam es zum Zusammenschluß von
Frankreich und Rußland. 1894 wurde dann Fürst Chlodwig von
Hohenlohe-Schillingsfürst Kanzler.
Für unsere württembergische Kirche waren
die Jahre 1887-1889 entscheidungsvoll durch die Neuordnung der Landeskirche
im Sinne der Selbstverwaltung der Gemeinden und Trennung von bürgerlicher
und Kirchengemeinde. Diese Neuordnung wurde von der Landessynode beschlossen
durch Gesetz vom 29. Juli 1889. Zum tiefsten Bedauern des Kollegiums
mußte Pfarrer Schmidt dem Pfarrgemeinderat mitteilen, daß der
Versuch, von § 92 Gebrauch zu machen und alles beim alten zu
lassen, wie für 400 andere Gemeinden gescheitert sei. Offenbar
dachten die Pfarrgemeinderäte jetzt anders als ihre Vorgänger
vor 23 Jahren. Eine Kirchensteuer wurde immerhin erst nach Jahren eingeführt.
Der letzte Beschluß des nunmehr ausgehobenen [pag200] Pfarrgemeinderats
war die Zustimmung zu der Absicht der bürgerlichen Kollegien,
die Winterabendschule in eine Fortbildungsschule zu verwandeln. Am
5. Juli 1889 wurde die Kirchengemeinderatswahl vorgenommen. Es stimmten
aber auch da von 529 Wahlberechtigten nur 59 ab. Die Fortsetzung der
Wahl brachte es auf 73. Gewählt wurden:
Gemeindepfleger Jakob Warth, Gemeinderat Gottlieb Warth, David Strauß,
Andreas Warth, Jakob Zaiß, Gerichtsnotar Mauk, Friedrich Paule,
Cannstatter Straße, Christian
Warth, Rechnungsrat Seitz, Alt August Paule mit 21 Stimmen. Die folgenden:
Philip Warth, Fabrikant Weber, Schullehrer Mast erhielten 18 und 17
Stimmen.
Wurde die neue Kirchenordnung nicht mit Freuden begrüßt,
so brachte auch sonst das Jahr nicht viel Erfreuliches, sofern im Juni
die Gemeinde von Hochwasser heimgesucht wurde und im Juli von Hagelschlag,
der auch eine Anzahl Kirchenfenster zerschlug. Dagegen war jetzt durch
die Anstellung einer Industrielehrerin nach all den vorübergehenden
Anläufen und mißglückten Versuchen ein erfreulicher
Anfang mit der endgültigen Regelung des Arbeitsunterrichts gemacht.
Fräulein Haas veranstaltete im April die erste Industrieausstelluug,
und im Herbst trat an ihre Stelle Anna Wilhelm, die bald eine vielseitige
Tätigkeit entfaltete und den Gedanken Fiechtners, die Sonntagsschule
in eine " Werktagsschule mit fortgesetztem Arbeitsunterricht" zu verwandeln,
durchführen half. Im November 1893 wurde dann die weibliche Fortbildungsschule
provisorisch eröffnet, das Jahr darauf Emilie Kull als Arbeitslehrerin
angestellt, und im Jahr 1896 trat Anna Wilhelm von der Arbeitsschule
zurück, da sie ihre ganze Kraft der Volksschule zu widmen hatte,
und es wurde nun eine zweite Lehrerin für die Arbeitsschule angestellt.
Neben diesen Lehrerinnen unterrichteten noch drei Volksschullehrer
im Zeichnen und wissenschaftlichen Fächern. Bald hatte die Untertürkheimer
Arbeitsschule einen so guten Ruf, daß sie auch von Mädchen
aus anderen Gemeinden besucht wurde. Da aber eine Verpflichtung zum
Besuch noch nicht bestand, so mußte die Sonntagsschule weiter
gehalten werden, im Winter mittwochs von 1 bis 3 Uhr, weil "den Eltern
der Besuch einer Schule, die Aufwand erfordert, nicht zugemutet werden
konnte". Die Volksschule zählte im Jahr 1891 sieben ständige
Lehrer, Hengstberger, Forstner und Gras, der dann nach Amerika ging,
waren neu hinzugekommen, dann zwei Unterlehrer, eine Lehrgehilfin und
eine Arbeitslehrerin. Aber in sämtlichen Klassen mußte wegen Überfüllung
Abteilungsunterricht gegeben werden. So war die Erbauung der Wilhelmsschule
eine Forderung der Zeit. Im Jahr 1892 wurde sie unter Glockengeläute
eingeweiht, und die Mädchen durften nun in die hellen luftigen
Räume der Wilhelmsschule einziehen mit ihrem weiten Hof in guter
Luft, während die Knaben bis auf den heutigen Tag sich mit den
zum Teil recht dunkeln und dumpfen Räumen der alten Schule und
ihrem engen Hof begnügen müssen.
Für die Kirchengemeinde handelte es sich jetzt
um die Ausscheidung des Kirchenvermögens. Die schwierige Sache
wurde hauptsächlich dank dem Beistande Schultheiß Fiechtners,
der ja von Amts wegen auch Mitglied des Kirchengemeinderats war, sehr
freundschaftlich erledigt. Die bürgerliche Gemeinde löste
eine Reihe von Verpflichtungen : die Lieferung von Felbenholz, den
Pfarrwasen u. a. mit einem Kapital von 10000 Mark ab, und am 29. April
1891 konnte das Schlußprotokoll unterzeichnet werden. Dasselbe
wohlwollende Entgegenkommen bewiesen die bürgerlichen Kollegien
denn auch im Jahr 1902, als es sich um die Ausscheidung der Mesnereibesoldungsteile
aus den Schulbesoldungen handelte, indem sie 16000 Mark verwilligten.
Im April 1904, unmittelbar vor der Eingemeindung, wurden noch 10000
Mark zur Verbesserung des Turmes der Kirchengemeinde geschenkt. Im
Jahr 1891 wurde Christian Warth, der 1889 in den Kirchengemeinderat
gekommen war, zum Kirchenpfleger gewählt. Im Jahr 1892 starb Pfarrer
Schmidt, ein trefflicher Kanzelredner, aber wegen Fußleidens
schwer beweglich. Der Kirchengemeinderat bat nun daß "bei der
Größe der Gemeinde ein Geistlicher in der Blüte der
Jahre hieher berufen werden möchte". Da wurde der halbblinde,
leidende Pfarrer Karl Rüdiger hierher ernannt, der gleich seinen
Auszug wegen Krankheit hinausschieben mußte. Ansang Juni 1893
wurde er dann feierlich von den kirchlichen und bürgerlichen Kollegien
und den Lehrern auf dem Bahnhof empfangen. Die älteren Schulklassen
bildeten Spalier bis zum Pfarrhaus und sangen einen Choral.
[pag201] Am 3. Oktober 1891 starb König Karl,
nachdem er 1889 noch sein fünfundzwanzigjähriges Regierungsjubiläum
gefeiert hatte, bei dem das Denkmal Herzog Christophs auf dem Schloßplatz
eingeweiht worden war. Schon jahrelang hatte er immer wieder Erholung
von seinem qualvollen Leiden im Süden gesucht. Ihm folgte Wilhelm
II., der der letzte König von Württemberg werden sollte.
Dem Kaiser Wilhelm II. soll er zu demokratisch gewesen sein. Unter
seiner Regierung wurde 1906 eine demokratische Verfassungsänderung
vorgenommen. Kraft derselben wurde der Landtag zum Teil durch Verhältniswahl
gewählt und bestand aus lauter vom Volk gewählten Abgeordneten.
Die Privilegierten kamen in die Erste Kammer, die bei 51. Mitgliedern
nur noch 20 Standesherren zählte.
Im November 1892 bekam der Kirchengemeinderat die
erfreuliche Mitteilung, daß Schullehrer Hengstberger bereit sei,
einen Kirchenchor zu gründen und zu leiten. Es wurde dann auch
gleich am 11. Dezember beschlossen, vier Dutzend buchene Stühle
für die erweiterte Orgelempore anzuschaffen, so daß der
Chor sie an Weihnachten benützen könne. Vom Jahr 1891 an
kaufte die Heeresverwaltung die Güter im Wasen auf, um den großen
Exerzierplatz von der Degerlocher Höhe herunter verlegen zu können.
Dadurch sind viele Untertürkheimer um die schönsten Baumgärten
und Felder gekommen, und damit hat die Umwandlung des Weingärtnerorts
in einen Fabrikort und Vorort Stuttgarts begonnen. Die Güter wurden
mit 75 Pfennig bis l,10 Mark für den Quadratmeter gezahlt, reich
sind also die Leute dadurch nicht geworden. Das Jahr 1893 begann mit
einem furchtbaren Eisgang. Der wilde Strom riß Grundstücke
und Wege auf und trug die Eisschemel durch das ganze Tal, und die Obstbäume
wurden zum Teil grausam verstoßen. Der König kam selbst,
um den Schaden zu besehen, der auf 40 000 Mark geschätzt wurde.
Im Lauf des Sommers hat sich dann allerdings herausgestellt, daß die Überschwemmung
die Mäuse, die sonst in diesem Jahr viel Schaden anrichteten,
sauber kaputt gemacht hatte und daß auf den überschwemmten
Stücken das schönste Gemüse wuchs. Der Neckar hatte
gleich dem Nil gearbeitet. Im November wurde das fünfhundert jährige
Jubiläum unserer Kirche gefeiert. Die Zahl über dem Turmtörlein
wurde damals 1493 statt 1478 gelesen. Zur Feier des Tages wurde eine
neue grüne Altarbekleidung gestiftet. Nachdem Pfarrer Rübiger
auf 13. November 1894 in den Ruhestand versetzt war, hat der Kirchengemeinderat
wiederum, es möchte ein nicht zu alter, tatkräftiger Mann,
der körperlich und geistig vollständig rüstig sei, an
seine Stelle gesetzt werden. Und diesmal wurde der Bitte entsprochen.
In Pfarrer Dr. Eugen Baur bekam die Gemeinde einen
Führer, der mit Kraft und Freudigkeit überall, wo es not
tat, eingriff. Er ging selber in die Häuser der säumigen
Christenlehrpflichtigen und konnte berichten, daß sie sich nun
ziemlich vollzählig einfinden. Um den Hauptgottestdienst zu entlasten,
wurde für die Festtage ein Kindergottesdienst eingeführt,
den der Vikar gleichzeitig im großen Saal der Wilhelmsschule
hielt. Wenn einmal kein Vikar da war, übernahmen die beiden Oberlehrer
diesen Dienst. 1895 verwilligten die bürgerlichen Kollegien 60
weitere Stühle für den Saal. Am 1. Juli starb, erst 41 1/2
Jahre alt, der Verwalter der Apotheke Abt, Schwiegersohn des Besitzers
Sallmann. Sein Nachfolger bis 1902 wurde Apotheker Eugen Pfleiderer.
Zur Hebung des Abendmahlbesuches, der 1879-1894 etwa 30 v. H. betragen
hatte, wurde das seit 1881 ausgefallene Abendmahl am Palmsonntag und
vor der Ernte wieder eingeführt. Der Konfirmandenunterricht wurde
so geordnet, daß der Pfarrer die Konfirmanden, der Vikar die
Zuhörer zu unterrichten hatte, also beide gleichzeitig Unterricht
geben konnten. Als Pfarrer Baur 1898 auf 2-3 Monate das Amt des Bezirksschulinspektors übernehmen
mußte, hatte Vikar Wilhelm das hiesige Amt allein zu führen.
Die Kirche wurde 1895 mit einem Aufwand von 5000 Mark innen erneuert.
An drei Eingängen wurden Vortüren angebracht, um die Kirche
warmzuhalten. Die Wände wurden geweißnet und quadriert,
das Holzwerk mit Ölfarbe gestrichen, Läufer in der Kirche
gelegt und zwei Luftschächte angebracht. Eine gemeinsame Sache
des Pfarrers und des Ortsvorstandes war die Einschärfung des Verbots
der Wirtshäuser für die fortbildungsschulpflichtige Jugend
und des Aufenthalts der Kinder auf der Straße nach dem Betglockenläuten.
[pag202] Das umsichtige und unermüdliche Wirken
des Ortsvorstands begann von 1894 an sichtbare Früchte zu tragen.
Nach jahrelangen Bemühungen gelang es ihm, in einer Versammlung
am 21. März 1894 162 Teilnehmer an der Wasserleitung zu gewinnen
und damit dieses große und segensreiche Werk in Gang zu bringen.
Noch in demselben Jahr konnte die Wasserleitung eingeweiht werden.
Bisher war das Bedürfnis des Orts durch 12 Pumpbrunnen und den
Türkenbrunnen, den einzigen laufenden, befriedigt worden, daneben
gab es noch 7 private Brunnen, 4 davon im Innern der Häuser. Von
den 12 Pumpbrunnen waren früher 8 Ziehbrunnen gewesen, aus denen
man das Wasser mit Eimern geschöpft und heraufgezogen hatte. Bei
der Pumpstation der Wasserleitung wurde ein Badehaus erbaut. Im Jahr
1895 wurde der untere Teil des Gögelbaches überwölbt.
Der Winter 1894/95 war so streng, daß der Boden etwa 1 Mieter
tief gefroren war und man in dem schönen sonnigen März 1895
mit den Grabarbeiten noch nicht anfangen konnte, weil man gleich auf
gefrorenes Erdreich stieß. Im Jahr 1896 wurde der Bahnhof der
Post überlassen, deren Aufgaben mit dem Aufschwung der Industrie
gewaltig zugenommen hatten, seit der Zeit, da eine Frau in ihrem Korb
zweimal im Tag die Post ausgetragen hat. An das Postgebäude wurde
dann das neue Bahnhofgebäude angebaut, wie es in der Hauptsache
heute noch ist. Dem neugebauten Rangierbahnhof sind wieder viel schöne
und fruchtbare Grundstücke zum Opfer gefallen. Jetzt war der Güterpreis
schon 2-4 Mark der Quadratmeter. Um des Bahnhofs willen mußte
auch die Cannstatter Straße verlegt werden. Jenseits derselben
begann dann der bis in die neueste Zeit fortgesetzte Bau von Dienstwohnungen.
Neben den laufenden Geschäften und der Sorge
für den Ausbau der neuen oder verlängerten Ortsstraßen
beschäftigte den unternehmenden Ortsvorsteher ein großer
lebenswichtiger Gedanke : die Durchführung der Neckarkorrektion.
Die Katastrophe von 1893 hatte wieder einmal bewiesen, wie notwendig
dieses Werk sei; aber es war auch schwierig. Doch auch für Fiechtner
waren die Schwierigkeiten dazu da, daß sie überwunden werden.
Und in welch kluger und umsichtiger Weise er dies verstand, zeigte
sich, als er am 8. Februar bei einer Verhandlung, die die Regierung
mit den Wasserwerkbesitzern anberaumt hatte, die Versammelten mit der
Mitteilung überraschen konnte, daß er vor ein paar Tagen
mit Genehmigung der Kollegien die Ludmannsche Mühle angekauft
habe und die Gemeinde also als Wasserwerkbesitzerin mitsprechen könne.
Nach schwierigen Verhandlungen gelang es ihm, mit Behr & Vollmöller
und Straus & Cie. Verträge abzuschließen, nach denen
sie ihre Wasserkraft, 25 und 53 Pferdestärken, gegen unentgeltliche
Lieferung von elektrischer Kraft auf 99 Jahre abtraten. Damit war die
Bahn gebrochen für die weitschauenden Pläne, die dann im
Jahr 1900 zur Ausführung kamen. Am 1. Oktober 1896 wurde ein langgehegter
Wunsch der Gemeinde erfüllt und eine Gemeindeschwester in ihr
Amt eingeführt. Ein Krankenpflegeverein sorgte für sie und
zog jährliche Beiträge von den Mitgliedern ein, denen die
Schwester Babette dafür unentgeltliche Dienste leistete, und sie
hat sich in den elf Jahren ihres Dienstes dankbare Anerkennung erworben.
Im Januar 1899 wurde eine Turnhalle eingeweiht, die
sogar rentierte, sofern die Vereine für die Benützung eine
Miete zahlten. Anno 1896 starb das ehrwürdige Haupt des Lehrerkollegiums,
Oberlehrer Fladt, der zwei Generationen mit Strenge, aber mit großer
Treue und nicht geringem Erfolg herangebildet hat. Es war immer ein
Fest gewesen, wenn seine Buben ihm auf Martini die Martinsgans überreichten
mit den Welschkornkolben, die sie im Ort zusammengefochten hatten,
damit die Gans auch richtig gemästet werden konnte. Und es ist
merkwürdig, wie alle, die durch seine Schule gegangen sind, sich
trotz aller, manchmal ja auch zu großen Strenge mit dankbarer
Freude seiner erinnern. An die Stelle Fladts trat am 28. April Oberlehrer
Staiger, der gleich seinem Vorgänger seine Buben in guter Zucht
hielt, auch in bezug auf den Besuch des Sonntagsgottesdienstes. Anfang
1900 beantragte die Ortsschulbehörde die freiwillige Errichtung
einer achten Schulstelle, damit „die tüchtige Lehrkraft
des Unterlehrers Keinath der Schulgemeinde erhalten bleibe". Am 25.
Juli 1897 war derselbe mit 9 von 10 Stimmen zum Organisten gewählt
worden. Er hat diesen Dienst mit großer Pflichttreue, mit lebendigem
Interesse und bedeutendem musikalischem Können bis zum 31. Dezember
1922 [pag203] geübt. 1895 hatte Pfarrer Baur das von zwei württembergischen
Herzoginnen 1656 gestiftete Taufgeräte an die Altertumssammlung
um 200 Mark verkauft und dafür ein neues angeschafft. Eine Abendmahlskanne
aus Geislinger Metall wurde gestiftet, ebenso ein Silberner Abendmahlskelch.
Der andere ist mitten im Dreißigjährigen Krieg gestiftet
worden und Raub und Plünderungen entgangen. Wiederum mit Hilfe
einer Stiftung wurden dann die vier zinnernen Abendmahlskannen auch
versilbert.
Im Jahr 1898 kamen zu den vorhandenen zwei neue Fabriken:
die Schokoladefabrik von Stängel & Ziller, Eszet, die während
der Inflationszeit 1921/22 ihre jetzige Größe erlangte,
und die Bubecksche Konservenfabrik. Aber das genügte dem weit|schauenden
Ortsvorstand nicht; denn er befürchtete, der Ort möchte eine
Arbeiterwohngemeinde werden ohne die Steuerleistung großer Fabriken,
und so brachte er es dahin, daß die bürgerlichen Kollegien
seinem Plan, ein Industrieviertel zu begründen, zustimmten. Das
ganze Gebiet zwischen Güterbahnhof und Neckar, das zu einem großen
Teil der Gemeinde gehörte, wurde dafür bestimmt. Nach schwierigen
Verhandlungen mit der Eisenbahnverwaltung wurde der Geleiseanschluß bewilligt.
Die Daimlermotorengesellschaft hatte als sie ihren Platz 1899 um 343
000 Mark kaufte, den Geleiseanschluß zur Bedingung gemacht. Es
gelang dann wirklich, eine industrielle Anlage um die andere anzusiedeln:
gegenüber von Daimler die Vereinigten Seifenfabriken. In der Kurvenstraße
entstand das Geschäftshaus der Tiefbaufirma C. Baresel, weiter
das Sägewerk des Zimmermeisters Jakob Zaiß, das später
auch zu den Daimlerwerken kam. Und endlich bauten 1904 Wolff & Söhne
ihre Anlage zur Herstellung von Kunstwolle. Auch eine Anzahl Miethäuser,
das sogenannte Fabrikviertel, wurden in nächster Nähe der
Fabriken gebaut.
Im Jahr 1899 wurde eine Darlehenskasse eröffnet,
um den Leuten eine bequeme Gelegenheit zu verschaffen, ihr Geld anzulegen
und nach Bedarf abzuheben. Zu dem immer städtischer werdenden
Charakter des Dorfes gehörte auch die Anschaffung eines Leichenwagens.
Der Pfarrer ging nun nicht mehr im Ornat mit dem Leichenzug, sondern
erwartete ihn am Friedhof. Die Kleinkinderschule war 1898 so überfüllt,
daß die Schwester bis zu 150 Kinder zu betreuen hatte. So war
es ein dringendes Bedürfnis, daß ihr mehr Raum geschafft
wurde. Es wurde dann das ehemals Seybothensche Haus an der Gartenstraße,
das die Gemeinde erworben
hatte, umgebaut; es [pag204] enthält
zwei Säle und Wohnungen. Der Garten gab einen schönen großen
Spielplatz, den heranwachsende Bäume allmählich beschatteten.
Auf 1. Mai 1901 wurden an Stelle der Großheppacher Schwestern
zwei Kindergärtnerinnen aus der Fröbelschen Schule, Fräulein
Weißeisen und Frösner angestellt. Den geäußerten
Bedenken gegenüber wurde die Fortdauer christlicher Erziehung
garantiert. Die zwei hatten immer noch je etwa 90 Kinder, und so wurde
1905 ein neues Kindergartengebäude an der Friedrichstraße
mit zwei Sälen für die Kleinen und zwei Zeichensälen
erbaut. Der Kindergarten wurde dann unter städtischer Verwaltung
interkonfessionell und auch katholische Kindergärtnerinnen angestellt.
Oktober 1899 richteten die Oberlehrer Staiger und
Mast und die ständigen Lehrer Hengstberger, Klingler, Forstner,
Hirsch, Wiedmann, Keinath an die bürgerlichen Kollegien das Gesuch
um Einführung eines örtlichen Altersklassensystems mit Gehältern
von 1400 bis 2500 Mark, das dann auch bewilligt wurde. Im Jahr 1898
wurde vom Reichstag das Flottengesetz angenommen, durch das Deutschland
erst eigentlich in die Reihe der Seemächte eintrat. In demselben
Jahr starb Bismarck und machte Kaiser Wilhelm jenen Besuch in Palästina,
bei dem er durch das Wort: „Ich bin zu allen Zeiten der Freund
von dreihundert Millionen Mohammedanern gewesen", die Großmächte ärgerte,
die Mohammedaner beherrschten. 1900 hat der Kaiser dann Bernhard von
Bülow zum Kanzler ernannt. Im Jahr 1899 begründete Julius
Schauwecker die Untertürkheimer Zeitung, die nach seinem Tod von
Matthäus Ableitet fortgesetzt wurde, seit dessen Tod 1919 ist
Arthur Schiler der erste Leiter.