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Ortsgeschichte von Untertürkheim von der Gründung des Ortes bis heute
Von Johannes Lechler
6) 1900-1933

Ortsgeschichte von Untertürkheim von der Gründung des Ortes bis heute (1935)

[pag204] Im Jahr 1900 wurde nun von den bürgerlichen Kollegien der Beschluß gefaßt, die Pläne Fiechtners betreffend die Neckarkorrektion durchzuführen. Das Neckarbett wurde erweitert, die Schutzdämme entsprechend erhöht, der rechtsseitige mit seiner Birkeneinfassung bildete einen reizenden Spazierweg, doppelt wertvoll bei der Armut des Orts an Spazierwegen. An der Brücke wurde an Stelle des Zeilenwehrs mit Steindamm ein Schützenwehr mit beweglichen Fallen oder Schützen angebracht. Von der Brücke ab wurde ein Kanal gegraben, der dem neuzubauenden Elektrizitätswerk die Wasserkraft zuführen sollte. In diesem befanden sich vier Wasserturbinen, die im Durchschnitt etwa 500 Pferdekräfte lieferten, und zwei Dampfmaschinen für je 200 Pferdekräfte, die als Reserve dienten, wenn die Wasserkraft versagte. An Stelle der Ludmannschen Wassermühle wurde eine ganz mit Elektrizität getriebene Mühle gebaut. So bekam der Ort immer mehr ein ganz anderes, städtischeres Aussehen. Schmerzlich war den Untertürkheimern der Verlust der Neckarlust mit dem berühmten Wellenbad. Im Jahr 1900 begann die Kanalisation der Straßen und die Herstellung von Gehwegen, mit der Cannstatter Straße beginnend. Am meisten veränderte sich aber das Ortsbild im südlichen Teil. Der Gögelbach wurde bis zum Gairenwald überwölbt, und der dadurch entstandenen Bachstraße entlang wurde ein Gemeindehaus gebaut, das die Arbeitsschule nebst Wohnung einer Lehrerin, dann unten Wasch-, Brenn- und Backküche und das Eichamt aufnahm. Weiter oben entstand auf beiden Seiten eine Kelter, die für beinahe 700 Geschirre Platz hat und mit allen neuzeitlichen Einrichtungen versehen ist. Der untere linkseitige Teil ist unterkellert. Hier hat die Weingärtnergesellschaft eine lange Reihe stattlicher Fässer liegen. Die Fortsetzung der Bachstraße, die Friedhofstraße, führt zu dem in einzig schöner, einsamer Stille gelegenen Friedhof, auf den die Kapelle des Rotenbergs herabschaut. Unter manchen Anfechtungen hat Fiechtner diesen Platz durchgesetzt. 

Im Dezember 1900 wurde auf Antrag Pfarrer Baurs ein Gesuch an die bürgerlichen Kollegien gerichtet um Anschaffung einer neuen Turmuhr. Er sollte sie aber nicht mehr erleben. Ende des Jahres ist er unerwartet schnell gestorben, und der Dienst wurde wieder bis September 1901 von zwei Unständigen, Löhrl und Metzger, versehen. Die Anschaffung der Turmuhr wurde dann schon im Januar beschlossen. Die bürgerlichen Kollegien sicherten einen Beitrag zu, und dem Turmuhrenmacher Ph. Hörz wurde die Lieferung einer elektrisch betriebenen Uhr, die sich selbst aufzieht, übertragen. Zur Bezahlung mußte eine Schuld von 1500 Mark aufgenommen werden. Im September 1901 ist dann Pfarrer Seybold aufgezogen. Er wurde auf dem Bahnhof in Fellbach abgeholt. Vor seinem Aufzug wurden einige Lebensbäume und[pag205] eine Akazie, die zwischen Kirche und Pfarrhaus standen, als unschön und zwecklos abgehauen. Auf der Terrasse hatte Pfarrer Baur mit Tuffsteinen eine Anpflanzung einrichten lassen, auch ein Gartenhäuschen gebaut. Der Kirchengemeinderat übernahm aber nur die Herstellung des Zaunes. Der Terrasse entlang hat dann Pfarrer Seybold später mehrere kanadische Pappeln setzen lassen, von denen die eine, die stehen gelassen wurde, jetzt die Kirche beschattet. Bei Pfarrer Seybolds Amtsführung zeigte es sich immer wieder, daß er, wie er selbst sagte, mit einem Tropfen juristischen Öls gesalbt war, freilich auch von Jahr zu Jahr mehr, daß er ein leidender Mann war. Er führte eine Bezirkseinteilung ein; von der Friedrichsstraße abwärts sollte des Vikars Bezirk sein. Doch mußte er später selbst feststellen, daß alle Gemeindeglieder Anspruch an den Pfarrer haben. Am 24. November 1901 hatte er gleich die Einweihung des neu erbauten Jünglingsvereinshauses an der Bachstraße mitzufeiern. Zu diesem Bau trug Christian Warth (Christianvetter) wesentlich bei. In ihm hat der Christliche Verein Junger Männer seine Heimat gefunden; er hat aber auch sonst noch allen möglichen Veranstaltungen in seinem großen und im kleinen Saal eine Stätte geboten. 

Infolge der Ablösung der Stolgebühren, durch die endlich das Wort „Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebt es auch wieder" einigermaßen wahr geworden ist, hatte die Gemeinde jährlich an die kirchliche Besoldungskasse 1025 Mark abzuführen. Nun hatte sich bisher in der Kirchenpflegerechnung fast immer ein größerer oder kleinerer Überschuß ergeben von 56 bis 428 Mark. Aber diese Summe konnte nur durch eine Kirchensteuer aufgebracht werden, und so mußte der Kirchengemeinderat in den sauren Apfel beißen und vom 1. April 1902 an eine Kirchensteuer im Betrag von 8 v. H- der Staatssteuer erheben, zugleich um die Mittel zur Förderung des Kirchenbauwesens zu gewinnen. Nun konnte man ruhig an die Erbauung einer geräumigen Sakristei an Stelle der kleinen alten geben. Der Bau wurde dem Ortsbaumeister Lusser übertragen, den Fiechtner seinerzeit von Trossingen hatte kommen lassen und der fast alle die Gemeindebauten entworfen und ausgeführt hat. Am 26. Oktober 1902 wurde die Gemeinde aufgefordert, nach dem Gottesdienst sich die neue Sakristei zu besehen. Der hier wohnende Pfarrer Wetzel stiftete die elektrische Beleuchtung der Kirche, der Strom sollte umsonst geliefert werden. Auch die Orgel bekam elektrischen Antrieb. Zum Schmuck der Kirche wurde eine rote und eine schwarze Altar- und Kanzelbekleidung gestickt, und die Arbeitslehrerinnen 
[pag206] fügten noch eine Schutzdecke dazu. Auf den Altar kam eine neugestiftete Altarbibel, auch wurde beschlossen, künftig beim Ernte- und Herbstdankfest (und dann auch bei der Erntebetstunde) den Altar mit den Erzeugnissen der Gärten und Weinberge zu schmücken.

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Im Jahr 1903 mußten vier weitere Schulstellen begründet werden. Und weil jetzt auch die Wilhelmsschule nicht mehr genug Platz hatte, wurde im Hof, längs der Gartenstraße, eine Schulbaracke aufgestellt. Das Jahr vorher: war eine einklassige katholische Konfessionsschule eingerichtet worden, die dann in der früheren Kinderschule untergebracht wurde. 1905 wurde die Schule zweiklassig. Die katholische Gemeinde war in den letzten Jahren auf etwa 300 Seelen angewachsen, und so unternahm sie einen Kirchbau an der Panorama=, jetzt Kappelbergstraße in beherrschender Lage. Der schöne romanische Bau wurde am 17. November 1903 von Bischof Keppler geweiht. Pfarrer wurde der Expositurvikar Kurz, auf den Stadtpfarrer Keller folgte, als jener nach Cannstatt versetzt wurde. Die Apotheke übernahm 1902 Samuel Zluhan von Lonsee. 

Schon im Jahr 1902 wurde ein Vertrag wegen Eingemeindung mit Stuttgart abgeschlossen, der auf 1. Oktober 1903 in Vollzug kommen sollte. Das veransagte Pfarrer Seybold, die kirchliche Eingemeindung und Trennung vom Dekanat Cannstatt anzuregen und um die Errichtung einer zweiten Pfarrstelle, von der schon früher die Rede gewesen war, einzukommen. Im Jahr 1903 feierte die Freiwillige Feuerwehr, die mit der dazugehörigen Sanitätskolonne etwa 220 Mann zählte, ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Für ihre Übungszwecke war an die Turnballe ein Steigerturm angebaut worden, und zur Unterbringung der immer zahlreicher werdenden Geräte wurde die „neue Kelter" an der Ecke der Roten- und Karlsstraße in ein Feuerwehrmagazin umgebaut. Bei den Verhandlungen über die Eingemeindung hat sich Pfarrer Seybold dadurch ein großes Verdienst erworben, daß er nicht ruhte, bis dem Ort ein eigenes Standes- und Grundbuchamt gelassen wurde. 

Ein alter Wunsch der Gemeinde, für den schon eine ganze Reihe von Stiftungen gemacht worden waren, ging auf Erhöhung des Kirchturmes und Herstellung einer Galerie für das Choralblasen des Posaunenchors. Auf die Bitte des Kirchengemeinderats hin erschien am 11. April 1905 eine Kommission des Konsistoriums und Christlichen Kunstvereins Oberkonsistorialrat Merz erklärte die Kirche im Innern für sauber und heimelig. Die nächste Aufgabe sei die Schaffung eines Bauplatzes für eine zweite Kirche und ein zweites Pfarrhaus. Er hob den eigenartigen Reiz des Kirchturms hervor. Als dann später festgestellt wurde, daß eine Erhöhung des Turms auf mindestens 30 000 Mark käme, da die Fundamente wesentlich verstärkt werden müßten, wurde dieser Wunsch zurückgestellt und aller Nachdruck auf Mehrung des Kirch- und Pfarrhausbaufonds gelegt, zu dem dann das Konsistorium 1000 Mark aus Interkalargefällen verwilligte. In der Folge wurde aber ein Pfarr- und Gemeindehaus ins Auge gefaßt, da die Errichtung einer zweiten Pfarrstelle von der Herstellung einer zweiten gottesdienstlichen Stätte und einer Pfarrwohnung abhängig gemacht wurde. An die Stadtgemeinde wurde immer wieder die Bitte um Überlassung des Bauplatzes im Äckerle gerichtet, den der Eingemeindungsvertrag nicht erlangte, sondern nur die Zusicherung des „Wohlwollens" bei der Werbung eines Bauplatzes. Als der Baufonds soweit angewachsen war, daß man an den Bau denken konnte, machten Krieg und Inflation allem ein Ende. 

Am 1. Oktober 1904 wurde das fünfundzwanzigjährige Amtsjubiläum Schultheiß Fiechtners festlich begangen und ihm das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde verliehen: Ein Ehrenbürger soll er uns sein! Noch lange möge er leben, gesund seines Werkes sich freun! 

Inzwischen ging sein Werk weiter. 1904 wurde der Kelterbau, 1905 die neue Kinderschule fertig. In diesem Jahr konnte auch der Liederkranz sein eigenes Heim einweihen. Die Sängerhalle ist ein Versammlungsraum geworden, der nicht bloß dem Verein, der ihn erbaut hat, sondern allen möglichen anderen Vereinen, politischen und anderen Versammlungen, nicht am wenigsten auch den Gemeindeabenden der evangelischen Kirchengemeinde eine unschätzbare Gelegenheit bietet. Am 24. März 1905 wurde die Eingemeindung Untertürkheims gefeiert. Drei Mitglieder der bürgerlichen Kollegien hatten dagegen gestimmt. Auch diese für Untertürkheim[pag207] So entscheidende Angelegenheit war wesentlich ein Werk Schultheiß Fiechtners. Er wurde nun pensioniert, während andere Gemeindebeamte von der Stadt übernommen wurden. Ortsbaumeister Lusser wurde mit 30 000 Mark abgefunden. Mit seiner Pensionierung schied Fiechtner auch aus dem Kirchengemeinderat aus, und Pfarrer Seybold redete in der Sitzung "bewegten Herzens" davon, daß seine "warme, innere Teilnahme an dem Wohl und Wehe der Kirchengemeinde überhaupt nicht ersetzt werden könne". Am 24. Dezember 1905 wurde der neue Friedhof eingeweiht. Nachdem Pfarrer Seybold wiederholt vergeblich darum petitioniert hatte, wurde dann doch von der Stadt ein Leichenhaus mit Versammlungsraum hergestellt, aber gemäß der freidenkerischen Mehrheit des damaligen Stuttgarter Gemeinderats ohne irgendwelche christlichen Embleme, wie es auch nicht gestattet wurde, einen Bibelspruch über dem Eingangsportal anzubringen, und doch hat dann dieser Bau ein unschätzbares Hilfsmittel zu unseren schönen Frühgottesdiensten auf dem Friedhof werden müssen. Es ist lange angestanden, bis die erste Beerdigung auf dem neuen Friedhof stattfand, und so war Stadtpfarrer Seybold unter den ersten, als er im September 1906 seinem schweren Übel erlag. 

An einer an sich geringfügigen Sache zeigte sich gleich im Anfang des Jahres 1906 die andere Stellung der Kirchengemeinde zur bürgerlichen, da der Kirchengemeinderat "mit Bedauern zur Kenntnis nehmen" mußte, daß von jetzt an die Kirchenpflege 10 Mark Wasserzins zahlen müsse. Einschneidender war, daß Ratschreiber Hoffmann, der bisher die Rechnungsstellung und Kirchensteuerumlage treulich besorgt hatte, mit seinem Abgang nach Stuttgart diesen Auftrag an Ratschreiber Grözinger übergeben mußte, dem aber die Arbeit nur auf kurze Zeit gestattet wurde. So mußte der neue Pfarrer die Rechnungsstellung und der Stadtvikar die Anlegung des Steuerregisters übernehmen. Grözingers Nachfolger wurde Ratschreiber Fremd, der mit seiner ruhigen, freundlichen Art ein Vater der Rat- und Hilfesuchenden wurde durch eine lange Reihe von Jahren, bis er im Jahr 1933 das dornenreiche Amt mit einem ruhigeren in Cannstatt vertauschte. 

Bis nach der Konfirmation 1907 hatten Stadtpfarrverweser Döring und Stadtvikar Strebel das Amt zu versehen. Anfang Juni zog Stadtpfarrer Johannes Lechler, von Laupheim kommend, auf. Er wurde vom Kirchengemeinderat, Lehrerkollegium und der älteren Jugend festlich empfangen. Er war ja dem Namen nach noch Ortsschulinspektor, der Ortsschulbehörde in Stuttgart aber gehörte er nicht an, und es war eine Wohltat, als 1910 diese Halbheit aufhörte und Oberlehrer Staiger zum Vorstand der Schule ernannt wurde. Auf Wunsch der Leiterinnen Fräulein Paule und Wilhelm übernahm der Stadtpfarrer die Vorstandschaft des Jungfrauenvereins und hielt die sonntäglichen Bibelstunden und einen Jungfrauenmissionsverein an einem Abend der Woche. Im folgenden Jahr kam es auch so weit, daß er auf Wunsch der bisherigen Leiter die Kindersonntagsschule übernahm, die bisher als Kinderstunde im Vereinshaus gehalten worden war. Jetzt wurde sie in die Kirche verlegt und mit Hilfe von mehr als zwanzig Mitgliedern des Jünglingvereins am Sonntag nach dem Hauptgottesdienst als Kindergottesdienst gehalten. Die Vorbereitung dazu fand in der Sakristei statt. Seim Sonntagsgottesdienst betraf er die Kanzel während des Vorspiels und sprach nach dem Schlußvers den Segen, um so am ganzen Gottesdienst der Gemeinde als das mit der Leitung beauftragte Mitglied teilzunehmen. Im Kirchenjahr 1907/08 predigte er im Einverständnis mit dem Kirchengemeinderat über freie Texte. Es wurde jedesmal ein Abschnitt aus dem Alten und Neuen Testament gelesen. Sei den Feiertagsgottesdiensten wurde im Jahr 1908 mit Pfarrer Reischle von Hedelfingen abgemacht, daß abwechselnd der eine oder der andere an beiden Orten predigte. 

Im November des Jahres 1907 wurde eine Hauskollekte für den Kirchbau veranstaltet, bei der die acht Kirchengemeinderäte mit je einem Begleiter die ihnen zugeteilten Bezirke durchgingen. Der Ertrag war 3393 Mark. Eine sehr erfreuliche ungesuchte Gabe war die Stiftung einer silbernen Hostienbüchse "zur Erinnerung an das Segensjahr 1907" von Christian Warth und seiner Frau. Im Januar 1908 richteten 34 Läutbuben durch Mesner Lämmle die Bitte an den Kirchengemeinderat, es möchte ihnen eine Vergütung gereicht werden, weil sie den  [pag208]
ganzen Monat Dezember wohl in die Kirche läuten mußten, aber weder von einer Beerdigung noch von einer Hochzeit eine Einnahme hatten. Die Bitte wurde aber "um des Vorgangs willen" abgeschlagen. Als Anfang 1908 Lehrer Hengstberger die Vorstandschaft des Kirchenchors niederlegte, glaubte er, der Stadtpfarrer sei der gegebene Vorstand. Die Leitung übernahm Lehrer Wiedmann, aber die Wahl des Vorstands sollte nach Beschluß des Kirchengemeinderats dem Kirchenchor überlassen werden, nur bei der Wahl des von ihm besoldeten Dirigenten wollte er mitwirken. Als Vorstand wurde dann Lehrer Löffler gewählt.

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In diesen Jahren waren die Gemüter von der Eingemeindung her noch sehr erregt. Die einen rühmten das Erreichte, die anderen redeten mit Wehmut von dem alten Untertürkheim mit seinen schönen, jetzt überbauten Gärten und seinem gemütlichen Leben. Sei allen eingesessenen Untertürkheimern aber klang eine Saite hell an, wenn es sich darum handelte, dem geliebten Heimatort auch als Stadtteil von Groß=Stuttgart seine Eigenart möglichst zu erhalten. Daneben ließ man sich's gerne gefallen, daß die Straßen und Wege allmählich gepflastert wurden. Für Feldwege pflegte die Gemeinde 4000 Mark im Jahr auszuwerfen, die Stadt aber 40 000. Zuerst wurde die vielbefahrene Cannstatter Straße durch Pflasterung von Staub und Schmutz befreit. Bei der Langen Straße stand es ziemlich lange an. Als aber am 30. November 1909 der altehrwürdige, im sechsundneunzigsten Lebensjahr stehende Gemeindepfleger Jakob Warth beerdigt wurde und die Stuttgarter Herren durch den tiefen Straßenkot zum Friedhof wandeln mußten, hoffte man, das werde mehr wirken als Eingaben. Die Straße ist dann auch bald gepflastert worden. Zur Pflasterung kam das Legen der Gasleitung und zum elektrischen Licht, das man schon hatte, die Bequemlichkeit des Gaskochens. Für das Schulwesen der beiden Vororte Untertürkheim und Wangen sorgte die Stadt 1908 durch die Erbauung der Lindenschule als einer Sammelschule, die auch die katholische Schule aufnahm. Im Lauf der Zeit wurde noch ein Flügel angebaut, um Platz zu schaffen für eine sechsklassige Realschule, ebenso wurde eine eigene Turnhalle hinzugefügt. Ihren Namen hat die Lindenschule von der alten Zigeunerlinde, bei der einst der Sammelplatz, wohl auch der Kampfplatz der Untertürkheimer und Wangener Jugend gewesen war. Im vorigen Jahrhundert war sie noch so hoch daß man mit zwei Feuerleitern die Misteln, die zahlreich darauf wucherten, kaum erreichen konnte. Im 20. Jahrhundert starb ein Ast nach dem andern ab. Am 15. Juni 1915 wurde sie gefällt und eine junge Linde gesetzt. Im April 1908 erlag Dr. Eugen Schimpf seinem unheilbaren Leiden. Er war 1891 der Nachfolger von Dr. Vöttiner geworden, der neben dem 1877 [pag209] verstorbenen Wundarzt Held jahrzehntelang die Untertürkheimer ärztlich versorgt hatte. Dr. Schimpf war ein Arzt, der das volle Vertrauen der Untertürkheimer besaß, und dessen Scheiden schmerzlich betrauert wurde. Sein Nachfolger wurde ein hiesiger Bürgersohn Dr. Emil Maier. Es hat sich aber seitdem ein Arzt um den andern hier niedergelassen, so daß wir jetzt neben den Zahnärzten und -technikern fünf Ärzte am Ort haben, nämlich Dr. Feldmann, Dr. Hengstberger, Dr. Lumpp und Dr. Sedlaczeck neben dem obengenannten. 

m Jahr 1908 stellte es sich heraus, daß am Türmchen des Kirchturms, trotzdem daß 1905 mit einem Aufwand von 1500 Mark "das Nötigste" verbessert worden war, eine gründliche Wiederherstellung unumgänglich nötig sei, da der obere Teil sich als morsch erwies. Es wurde dann von der Erhöhung des Turmes ganz abgesehen und einstimmig beschlossen, das Türmchen genau in seiner bisherigen Form wiederherzustellen und mit Kupfer zu decken. Dabei bat auch der alte Turmhahn einem neuen weichen müssen. Im Jahr 1909 wurde der Saal der alten Kinderschule der Stadt um ein billiges abgemietet und als Konfirmandensaal eingerichtet, mit zwei Banktischen, einer Anzahl Bänken und einem stattlichen Katheder versehen. Der Jungfrauenverein durfte hier seine Wohnung aufschlagen und hat den Saal mit einem Harmonium und einem Bibliothekkasten ausgestattet und die Wände mit Bildern geschmückt. Auch der Kirchenchor fand hier seine Übungsstätte und hat es im Lauf der Jahre von einem mangelhaften Klavier zu einem tadellosen Flügel gebracht. Der Saal wurde mit der Zeit die Stätte der Winterbibelstunde und von 1911 an des neubegonnenen Frauenmissionsvereins. Ebenso wurde er zu Nebengottesdiensten benutzt und zu allen möglichen Versammlungen und Veranstaltungen. Er erwies sich als eine Lebensnotwendigkeit der Gemeinde. Die Wohnung im Dachstock war  [pag210] für die Schwestern gemietet worden, deren Zahl 1909 auf vier vermehrt wurde. Als 1907 der neue Pfarrer in einer Generalversammlung des Krankenpflegevereins zum Vorstand gewählt werden sollte, Stellte es sich heraus, daß außer dem Ausschuß nur noch sein Mesner da war, von dem er also einstimmig gewählt worden ist. Später, als Dr. Maier bei der Generalversammlung einen Vortrag zu halten anfing, reichte der Konfirmandensaal nicht mehr, und der Saal der "Alten Krone" wurde voll. Zum Rechner des Vereins wurde, nachdem Ratschreiber Grözinger 1910 nach Stuttgart versetzt worden war, Lehrer Bofinger gewählt, der bis heute dem Verein und den Schwestern aufs treuste und selbstloseste gedient hat. 

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Im politischen Leben haben sich in jenen Jahren schon die ersten Anzeichen des kommenden Kriegs bemerklich gemacht. Die Marokkofrage führte nahe daran, aber man glaubte damals noch davon reden zu dürfen, welcher Krieg populärer sei, der gegen Frankreich oder gegen England. Der belgische Gesandte Greindl aber hat damals erklärt, daß der Weltfrieden nie ernstlicher bedroht gewesen sei, als seit der König Eduard von England ihn zu festigen trachte. Im Herbst 1908 gestattete Wilhelm II., ohne von seinem Reichskanzler Bülow abgemahnt zu werden, die Veröffentlichung einer Unterredung mit einem englischen Zeitungsmann, in der er in seiner unvorsichtigen Weise seine freundschaftliche Gesinnung gegen England aussprach. Im Reichstag wurde dann an der persönlichen Politik des Kaisers die schärfste Kritik geübt, und er versprach, "die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern". Der Kronprinz hatte den Eindruck, daß der Kaiser von diesem Schlag sich nie wieder ganz erholt habe. Es war dasselbe Jahr, in dem der erste Zeppelin verbrannt ist, aber dieses Unglück ward für den edlen Grafen zum Segen. Das deutsche Volk spendete 6 Millionen zum Wiederaufbau. 1909 trat Bethmann=Hollweg an Bülows Stelle, nachdem die Finanzreform beschlossen und die Erbschaftssteuer mit 194 gegen 186 Stimmen verworfen war. 

Ende Januar 1909 gab der Kirchenchor ein Konzert zum Besten des Kirchbaufonds und im Sommer Stadtvikar Werner eines, das er mit seinem wohltuenden Gesang verschönte. Er war im August 1908 auf Strebel gefolgt und der erste und letzte verheiratete Stadtvikar, kam dann auch schon im August 1909 als Pfarrer nach Berneck. Stadtvikar Schairer wurde auf Gründonnerstag 1910 abberufen, und der Stadtpfarrer konnte nun sehen, wie er bis Juli allein fertig wurde. Im Jahr 1910 hatte die Gemeinde vier Vikare. Stadtvikar Knapp kam aus Gesundheitsgründen nach zwei Monaten wieder weg, und Stadtvikar Kemmler wurde vom 2. bis 16. Oktober von Stadtvikar Wolf vertreten. Auf Weihnachten 1909 erschien die erste Untertürkheimer Chronik, die ein Gemeindeblatt nicht ersetzte, aber den Vorzug hat, daß sie unentgeltlich an alle Gemeindeglieder ausgeteilt wird und so ein Gegenstück zu dem unwillkommenen Kirchensteuerzettel bildet. Im Jahr 1911 wurde die Kirche innen erneuert. Die Gottesdienste, auch der Kindergottesdienst, fanden auf dem Friedhof statt. Das trug dazu bei, der Gemeinde die Frühgottesdienste auf dem Friedhof gewohnt und lieb zu machen. Es war das trockene Jahr, in dem es vom 2. Juli bis zum 14. September nur am Mittag nach der Erntebetstunde kräftiger geregnet hat. Wenn bei den Bohnen die Blätter, auch wenn man goß, am Stock verdorrten, so war es dem Weinstock wohl bei der guten Wärme. Der Ertrag der Weinberge war zwar nicht groß, aber der Preis so gut, daß er von 300 bis 759 Mark für den Eimer betrug. Die Herbste dieser Vorkriegsjahre werden durch die Dankfestopfer für die Armen der Gemeinde gekennzeichnet: 1908, wo der im Oktober einfallende Frost nichts mehr schadete, waren es 222 Mark, 1909 aber noch 168 und 1910, wo manche in einem Kübele den Ertrag eines Weinbergs heimtragen konnten, nur noch 124 Mark. Dagegen 1911 wieder 203. Das Jahr 1912 brachte es auf 169 Mark, 1913 nur noch auf 108. Im Jahr 1912 hat schon im Winter der Frost Schaden getan, dann kamen Spätfröste, als der Wein in der Wolle war, und im Herbst sind die Trauben, wenn sie noch nicht ganz reif waren, jämmerlich erfroren. Dagegen gab es reichlich Obst. 1913 aber war jener Konfirmationssonntag, der 13. April, da man bei einer wunderschönen Winterlandschaft aufwachte. Alles war mit Schnee bedeckt und sechs Grad Kälte! Es war ein Wunder, daß doch nur einzelne der blühenden Bäume ganz um [pag211] gestanden sind, aber Wein- und Obstertrag war dahin. Die Kelter wurde im Herbst gar nicht geöffnet. 

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Die Geschäfte gingen gut. Die drohende Aussperrung der Metallarbeiter ganz Deutschlands, die eine halbe Million Arbeiter getroffen hätte, wurde 1910 noch glücklich abgewendet, ein Streik bei Daimler 1911 nach wenig Tagen beigelegt. 1913 wurden die Arbeiter der Bosch'schen Fabrik ausgesperrt, und in einer Reihe von Abteilungen der Daimler=Motorenfabrik wurde Arbeitsverkürzung vorgenommen, ein Zeichen der zunehmenden Geschäftsstockung. Der Stadtpfarrer hatte von Anfang an versucht, durch Vorträge das Interesse der kirchenfremden Arbeiter an religiösen Fragen zu wecken. Aber sobald es erwachen wollte, wurde von der Parteileitung abgepfiffen. Als er dann 1912 einen Vortrag über Sozialdemokratie und Christentum hielt, schienen viele Zuhörer gar nicht ablehnend, umso mehr war es die Leitung. So blieb ihm nur noch die Möglichkeit, bei Gelegenheit von politischen Versammlungen, bei denen religiöse Fragen zur Sprache kamen, oder bei Austrittsversammlungen ein Zeugnis für den Christenglauben abzulegen. Schlecht behandelt wurde er nie, im Gegenteil war das Echo manchmal ein ganz überraschendes. 

Eine Zeugin des Christenglaubens ist im Jahr 1911 in der siebenundvierzigjährigen Helene Schönberger Von siebenunddreißigjährigem, seit ihrer Schulzeit währenden Leiden erlöst worden. Sie hat in ihrem Dachstüblein wirklich von Gott und guten Leuten gelebt, aber von dem wenigen, was sie als Nähterin verdiente, doch noch den Zehnten für die Mission gegeben und ist mit ihrem fröhlichen und getrosten Glauben vielen zum Segen geworden. Am 6. November wurde durch ein nächtliches Erdbeben mehr Schrecken als Schaden angerichtet. Der Pfarrer sah zum Fenster hinaus nach dem Lastauto, das, wie er meinte, das Haus zittern gemacht habe. Im Jahr 1912 wurde mit der Außenreparatur der Kirche begonnen, bei der Wiederherstellung der Giebelseite wurden zwei Kellereingänge aufgedeckt. Man fand aber nichts als Erde und viel Totengebeine. Die Eingänge wurden wieder zugemauert. Im Frühjahr 1914 wurde aus Anlaß der Kanalisation unmittelbar neben der Südostecke der Kirche ein römischer Töpferofen und eine mit Scherben gefüllte Abfallgrube aufgegraben. Das Wertvolle kam in die Altertumssammlung. Die Außenrenovation der Kirche wurde Stück für Stück fortgesetzt. Die Quadersteine hat man nicht mehr wie früher überstrichen, sondern nachgearbeitet und einzelne ersetzt. Im Jahr 1914 kam man bis zum Turm. Dann wurde die Arbeit durch Krieg und Nachkriegszeit unterbrochen und erst im Jahr 1925 die Chorseite vollendet und der [pag212] Turm in seinem ursprünglichen Aussehen wiederhergestellt. Mit dieser Arbeit hing dann eine Verschönerung der Umgebung der Kirche zusammen. Zuerst wurden Gebüschanlagen gegen den "Hirsch" mit Steineinfassung, 1913 auch auf der Südseite der Kirche angepflanzt. 

Im Jahr 1913 begann an der Grenze der Ortsmarkung gegen Fellbach zu der Bau der Gartenstadt, ausgeführt von der Baugenossenschaft Luginsland durch Architekt Wacker u. a., Einfamilienhäuser, zwei oder drei zusammengebaut, von Gärten umgeben. Die Vollendung der dritten Serie fiel schon in den Krieg, und es war ein schlimmes Einziehen und Wohnen in den Häusern, denen womöglich noch die Haustüre fehlte. Nach dem Krieg ist dann, von 1920 an, der Bau mit neuem Eifer aufgenommen worden. Zur Erwerbung eines stattlichen Areals haben die Daimler=Motorengesellschaft und Robert Bosch beigetragen, während die bürgerlichen Kollegien sich ablehnend verhielten. (Nach dem Krieg hat die Stadtgemeinde auch geholfen.) Das nicht überbaute Land wurde verpachtet als Gemüseland, auch ein Turn- und Sportplatz ausgesondert, mit einer Turnhallenbaracke, die 1933 mitsamt dem Sportplatz überbaut worden ist. Die Baugenossenschaft hat das Vorkaufsrecht, Spekulation darf nicht getrieben werden. Mit ihren über 300 Einfamilienhäusern und 4 Miethäusern mit 35 Wohnungen kann man es schon eine Stadt heißen. Jedenfalls ist die Gartenstadt mit ihren blumenreichen Vorgärten, namentlich wenn die Rosen blühen, aber auch im ersten Frühling wie im Sommer und Herbst ein wahres Schmuckkästchen, eine Sehenswürdigkeit Untertürkheims. 

Im Jahre 1913 hat die Neuapostolische Gemeinschaft einen förmlichen Einbruch in die evangelische Gemeinde gemacht. 1908 hatten mit der Familie Brehm die Austritte zu den Neuapostolischen begonnen. Dann wurde in steigendem Maße eine ungeheure Propaganda entfaltet. Um seine Gemeinde über diese neu aufkommende Sekte aufzuklären, hielt der Stadtpfarrer einen Vortrag, bei dem man vom Vereinshaus in die Kirche hinübergeben mußte. Der Vortrag erschien im Stuttgarter Gemeindeblatt, und es wurde davon ein Sonderdruck hergestellt. Nach einem kurzen Rückschlag nach dem Krieg haben sich die Neuapostolischen so vermehrt, daß sie eine eigene Kirche an der alten Fellbacher Steige bauen konnten, die ein glänzendes Zeugnis ist für die Opferwilligkeit und den Zusammenhalt der neuapostolischen Gemeinden des Landes. Im Jünglings- und Männerverein, dem Christlichen Verein junger Männer, der 1911 sein dreißigstes Jahresfest gefeiert hatte, wurde 1912 eine Pfadfinderabteilung gebildet, die schon durch ihre äußere Erscheinung, die schmucke Uniform, noch mehr durch ihr munteres Treiben und vor allem durch ihren Grundsatz "Allzeit bereit" (zum Dienst für andere) Freude bereitete. Gerade noch vor dem Krieg konnte der Jünglingsverein seinen Garten einweihen, in dem eine Unterkunftshütte mit Aussichtstürmlein aufgerichtet wurde. Der Garten ist dann nach dem Krieg auch dem Ferienheim eingeräumt worden. Um für 200 und mehr Kinder Platz zu schaffen, wurde an die Unterkunftshütte ein stattlicher Saal angebaut, der schon zu allerhand Zwecken, vor allem zu den von Stadtpfarrer Haap eingeführten Sommerfesten des Gemeindevereins, benutzt worden ist. Im Gairenwald draußen hat sich auch der Untertürkheimer Turnerbund und die katholische Gemeinde stattliche Gärten erworben. 

Im Frühjahr 1914 erschien ein Artikel eines russischen Staatsrats, in dem es klipp und klar ausgesprochen war, wenn Deutschland in der Meerengenfrage Rußland im Wege stehe, so gebe es eben Krieg. Frankreich hatte das dritte Dienstjahr eingeführt und seinem russischen Bundesgenossen Milliarden geliehen, damit er seine strategischen Bahnen ausbaue. Man wollte es nicht glauben, daß es Menschen gebe, die so gewissenlos seien, das Unglück eines Weltkriegs über Europa zu bringen. Aber der Gott Mammon, der Herr der Welt, befahl den Krieg. Die Engländer, voll Neids auf den industriellen Aufschwung Deutschlands, glaubten, wenn Deutschland niedergeworfen werde, werde jeder Engländer um 20 000 Pfund reicher sein. Aber auch ein deutscher Industrieller, Kraftfahroffizier, sagte nach dem Fall Lüttichs: "Jetzt kann man reich werden." Ihren Sieg über Deutschland haben unsere Feinde der Angst Amerikas um seine Milliarden zu danken. Als Österreich an Serbien den Krieg erklärte, wußte jedermann, daß das eben das Vorspiel sei. Und so kam der Tag, an dem ein Leutnant mit einer Abteilung Soldaten an der Krone aufmarschierte und unter Trommelwirbel die Erklärung der  [pag213] Kriegsbereitschaft verlas. Einer glaubte, mich auf das Welthistorische dieses Augenblicks aufmerksam machen zu müssen, aber mir war zuvorderst das Grauen vor dem furchtbaren Geschick, dem Europa und vor allem unser Vaterland entgegenging. Am andern Morgen war Frühgottesdienst auf dem Friedhof. Es wurde die erste Kriegsbetstunde! Doch es gilt, sich über den Krieg möglichst kurz zu fassen. Jeder Kriegsteilnehmer weiß, wie schwer das ist. Es ist's auch für die Daheimgebliebenen. 

Die erste Zeit bildet für uns eine erhebende Erinnerung. Was uns ergriff, war ein heiligernstes Gottvertrauen. Gott ist mit uns, den ohne Grund Überfallenen. Er wird uns helfen gegen unsere Feinde, die uns vernichten wollen. Das andere war ein wunderbares Gefühl der Zusammengehörigkeit. Man hat jeden Deutschen mit ganz anderen Augen an, recht als Bruder und Schwester, als Glieder eines Volkes, als Kinder des gemeinsamen Vaterlandes, für das, zum mindesten in dieser ersten Zeit, jeder alles zu geben bereit war. Endlos sahen wir die Züge durchfahren, die unsere Söhne, Brüder und Väter ins Feld führten. Untertürkheim wurde eine Hauptstation, lag es doch an der Umgehungsbahn, deren Wert jetzt jedermann klar wurde. Auf dem Güterbahnhof wurde eine große Küche eingerichtet, und Tag und Nacht waren eifrige Frauenhände bereit, die Durchfahrenden mit Gekochtem und Ungekochtem zu erquicken. Bald kam dazu eine Verbandstation der Sanitätskolonne. Das Kote Kreuz unter dem Vorsitz des Reichstagsabgeordneten Keinath organisierte die Hilfstätigkeit, die sich nun alsbald auch auf die Familien der Ausmarschierten erstreckte. Eine Kinderkrippe und Kinderküche wurde eingerichtet. Für die erstere stellte Fabrikant Straus sein Anwesen zur Verfügung. Dank einer reichen Stiftung der Daimlergesellschaft konnte dann später dieses Anwesen für die Krippe erworben werden, 1926 und 1928 wurde es zu seiner jetzigen Vollendung ausgebaut. Die Kinderküche wurde im Erdgeschoß des Kindergartens untergebracht, und es stand nicht lange an, da waren es fast 200 Kinder, die hier ihren Hunger stillen durften. In der Arbeitsschule wurde für die Soldaten gearbeitet, und der Konfirmandensaal wurde eine Nähstube, in der dann abends Strickabende veranstaltet wurden. In den ersten Tagen waren die Kraftfahrer, die alsbald hier ihr Hauptquartier bekamen, bei den Bürgern einquartiert. Mit der Zeit wurde die Sängerhalle und der Kindergarten Kaserne. In der Sängerhalle war schon ein Reservelazarett vorgesehen. Da wurde sie eines Tages wieder ausgeräumt und die Stätte der vaterländischen Abende, bei denen unter Vorsitz des Reichstagsabgeordneten Keinath er und die beiden Pfarrer, die brüderlich beieinandersaßen, der zahlreichen Versammlung mitteilten, was sie wußten und auf dem Herzen hatten, bis dann der Saal von den Kraftfahrern besetzt wurde. Im Lokal des "Liederkranzes" wurde später ein Lesezimmer eingerichtet. In den ersten aufgeregten Tagen ist man auch hier von der grassierenden Spionen- und Fliegerfurcht nicht frei gewesen. Einmal wachten wir an heftigem Schießen auf. Sie hatten den Planeten Mars für das Licht eines feindlichen Flugzeugs gehalten. Im "Mönchskeller" hatten die Flieger ihr Sammelquartier. Der Bahnschutz wurde zunächst von bewaffneten Bürgern, dann von Landsturmleuten versehen. Das Blatt "Durch Kampf zum Sieg" wurde allwöchentlich in etwa 600 Exemplaren ins Feld geschickt. Ebenso dann an Weihnachten die "Untertürkheimer Chronik" und Jahr für Jahr Weihnachtsschachteln, die vom Roten Kreuz aus zusammengestellt wurden. In der ersten Zeit sind unsere Soldaten draußen mit Eßwaren, aber auch mit Kleidungsstücken aller Art förmlich überschüttet worden. Später, als Not und Mangel daheim einkehrte, wurde es anders. Aber manches hat sich vom Mund abgespart, ja vielleicht Mangel gelitten, um sein Feldpostschächtele packen zu können. Im Dezember war noch scherzweise davon die Rede, daß es am Ende zu Spätzle nicht mehr reichen könnte; aber schon Anfang 1915 wurde es ernst. Da hat man dann den Inhalt der Viktore durchsucht und in Ostheim unter 100 Pfund 81/2 Pfund Brotreste gefunden. Es wurde eine Sammlung von Abfall=, vor allem Wollstoffen, bei der die Schulkinder helfen durften, veranstaltet und hier allein 700 Kilogramm zusammengebracht. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, ihr Gold in Papiergeld umzuwechseln. Das ergab 36 000 Mark Gold. Später ist dann alles Gold in Schmuck und sonst gesammelt worden wie einst 1813: Eisen nahm ich für Gold. Ebenso wurden Kupfer und Messing, überhaupt alle Metallgegenstände [pag214]

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außer Blech und Emaille gesammelt und das schöne Kupfergeschirr fürs Vaterland geopfert. Damals wurde auch das Zeichenglöcklein von 1661 hergegeben. Auf dem stand: Omnis spiritus laudet Dominum (Alles, was Odem hat, lobet den Herrn). M. Ludwig Hetzer, Pastor; Ludwig Albrecht Schmierer, Praetor; Joann Philipp Maier, Scriba; Joann Scheef, Vitus Exlin (Ächslin) ludices. Dominus cum suis (Der Herr ist mit den Seinen). Im Herbst 1915 wurden von den Schulkindern Eicheln gesammelt zu Futterzwecken, hier 50, in Groß=Stuttgart 1000 Zentner. 

Aber nun die Arbeit in Feld, Garten und Weinberg! Es war etwas Merkwürdiges, wenn man über Feld ging und überall fleißig, gearbeitet wurde, sah man nur alte Männer und Buben, vor allem aber Frauen. Den guten, reichlich gewachsenen Wein des Jahres 1915 haben wir Liebfrauenwein genannt. So haben die Daheimbleibenden sich redlich gemüht für die draußen und an ihrer statt. Und draußen ging es heiß her. Bei Ilow in Polen sind allein sechs Untertürkheimer gefallen. Stadtvikar Kemmler kehrte mit Lungenschuß vom Westen zurück, um in erstaunlich kurzer Zeit wieder ins Feld zu ziehen. Im Osten hat ihn dann die tödliche Kugel getroffen. Kunstmaler Schmauk hat sich selber übertroffen mit einem Gedenkblatt für die Gefallenen, das vom Kirchengemeinderat für jedes Haus, das einen Gefallenen beklagte, bestimmt wurde. 

m März 1915 legte der alte Kirchenpfleger sein fast 40 Jahre geführtes Amt nieder. An seine Stelle trat der junge Christian Warth, der immerhin auch so alt war, daß er erst November 1916 den Gestellungsbefehl bekam und bald wieder entlassen wurde. Er hat mit außerordentlicher Gewandtheit und unermüdlicher Treue allmählich die ganze Last der Kirchenpflegerechnung und des Steuereinzugs auf sich genommen gegen geringe Entlohnung. Am 17. Dezember konnte man mit besonders dankbarem Herzen die Siegesglocken läuten, war doch die "russische Dampfwalze" zusammengebrochen. Aber im Jahr 1916 tobten im Westen, vor allem an der Somme jene fürchterlichen Materialschlachten, bei denen man sich bloß wunderte, daß überhaupt noch jemand am Leben blieb. Verwundeten- und Totenlisten wurden längst keine ,[pag215] mehr ausgegeben. Und daheim wurde es auch immer schwieriger, der völkerrechtswidrigen Aushungerung zu begegnen. Die Brotkarten wurden eingeführt, und jetzt hat manches gelernt, andächtig um das tägliche Brot zu bitten und ein Stücklein als eine Gabe Gottes anzusehen, denn grammweise mußte jetzt den Hausgenossen das Brot zugeteilt werden. Zu den Brotkarten kamen Fleischkarten, zuletzt bekam man 1/2 Pfund in der Woche, und von 1917 an wurden Zucker und Butter und alles mögliche nur noch auf Karten abgegeben. Das schlimmste war, daß Ende 1916 nur noch Greise, Kranke und Kinder Milch bekamen. Es war auffallend, wie die dicksten Leute mager wurden, aber schrecklich, wie der Milchmangel Gesunde krank und Kranke nicht gesund werden ließ. Freilich die Gewissenlosen wußten sich zu helfen. Wenn sie Geld genug hatten, konnten sie sich ein "Pensionsschwein" kaufen und die Selbsterzeuger markieren, indem sie sich ein Schwein von einem Bauern mästen ließen. Das Schwarzschlachten und überhaupt das Hamstern hat im Laufe der Zeit ungeheure Ausdehnung gewonnen, und ganz allein bloß von dem, was die Karten einem zubilligten, haben nicht viele gelebt, und die es taten, sind fast oder ganz an Schwäche gestorben. Im Jahr 1916 fiel zum Unglück auch noch die Kartoffelernte schlecht aus, und nun mußte sich das deutsche Volk, soweit die Leute nicht Selbsterzeuger waren, mit Bodenkohlraben begnügen, wie in den fünfziger Jahren, und viele haben sich's schmecken lassen. Noch schlimmer wurde es, als im kohlenreichen Deutschland auch noch Kohlenmangel eintrat. Der Winter 1916/17 wurde so kalt, daß man in den Schulen Kohlen Vakanz gab; auch die Kirchenheizung versagte zeitweilig, und besorgt schaute man nach den Gaisburger Gaskesseln, ob sie in der Höhe seien und das Gas reiche. Daß die Straßenbeleuchtung möglichst eingeschränkt wurde, kam dem lieben Mond zugute, der nun auch wußte, zu was er den verwöhnten Städtern sein volles Licht spendete. Auch in der Kirche bat man sich bei den Kriegsbetstunden mit einem Mindestmaß von Licht gerne begnügt. Die Prospektpfeifen an der Orgel waren seit Februar 1917 verschwunden, und die Lücke wurde mit Rupfentuch verhüllt. Am 29. Juni 1917 haben wir uns dann mit schwerem Herzen von unseren zwei kleineren Glocken verabschiedet.

Die größere hatte nur die Inschrift: "Umgegossen von G. F. Bücher, Untertürkheim 1786; die kleinere: Christian Ludwig Neubert goß mich in Ludwigsburg 1763. M. Joachim Ludwig Neuffer, Pastor; Andreas Wolff, Keller- und Amtmann; Johann Gottlieb Koch, Bürgermeister; Johann Moriz Zais, Kirchenkastenpfleger. Vikarius war damahlen M. Christ. Friedr. Hildebrand in Stuttgart."
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[pag216] Das Jahr 1917 begann mit einem Winter, der nicht enden wollte. Am 29. April wurde es endlich Frühling oder besser Sommer; denn nun kam ein Mai, der in kurzer Zeit das Versäumte nachgeholt hatte. Freilich hat dann an Peter und Paul ein Hagelwetter in dem größten Teil des Zehnten verderbt, was gewachsen war; und doch wuchs bei allergünstigster Witterung heran, was noch wachsen konnte, so daß es ein ganz gutes Jahr wurde. Der Wein wurde mit 1000 Mark der Eimer bezahlt. Die reiche Bucheckernernte hat manchem das fehlende Fett geliefert, und die glücklichen Feldzüge in Rumänien und Italien besserten die schwindenden Lebensmittelvorräte auf. Im März wurde eine Kriegsküche eingerichtet, wo jedermann um wenig Geld sich ein Mittagessen holen konnte. Aber nun wurden allmählich auch Kleiderstoffe und Leder knapp, und im April wurden Richtlinien herausgegeben, die bestimmten, was jedes an Kleidern und Wäsche nötig habe: Ein Sonntagsund zwei Werktagsanzüge sollten für Männer und in der Hauptsache auch für Frauen genügen. Zwei Bettücher und zwei Bettbezüge, eins im Gebrauch und eins am Seil! 

Das Reformationsjubiläum, an dem man einst geglaubt hatte, die Grundsteinlegung des Pfarr- und Gemeindehauses halten zu können, ist wie das Jahr vorher das Regierungsjubiläum unseres Königs wohl gefeiert, aber im Drang der Ereignisse ziemlich wenig beachtet worden. In den Kirchengemeinderat wurden durch Ersatzwahl Bahnhofkassier Stäudle, Heinrich Schweizer und Kaufmann Zuckerschwerdt gewählt. Mesner Lämmle hatte schon Oktober 1915 aus Gesundheitsrücksichten gekündigt, aber doch mit Hilfe seiner Frau den Dienst weiter geführt, bis dann im Frühjahr 1918 Ernst Kreder das Amt übernahm. Fürs Pfarr- und Gemeindehaus gelang es, den Rühleschen Weinberg im Äckerle zu erwerben. Im Juni war Stadtvikar Knebel an die Stelle Hartmanns getreten. Er war wegen Herzleidens aus dem Heeresdienst entlassen worden. Seit 1916 wurde allmonatlich ein besonderer Militärgottesdienst gehalten. Im Hirschsaal pflegten die Kraftfahrer ihre Weihnachtsfeier zu verunstalten. Von den Fliegerüberfällen und ihrer Wirkung durfte kraft der militärischen Zensur auch in der "Chronik", also lange nachher, nichts berichtet werden. Der erste im September 1915 geschah an einem wunderschönen Morgen. Mit Interesse betrachteten wir von der Lindenschule aus die weißen Schrapnellwölkchen, die so zierlich am blauen Himmel erschienen. Wieviel von den im Hof der Rotebühlkaserne angetretenen Soldaten verwundet oder getötet wurden, hat man nie erfahren. Im weiteren Verlauf des Krieges wurde den Überfällen aller Reiz genommen. Einmal kam einer, als eben die Kinder aus dem Kindergottesdienst entlassen waren, der damals so besucht war, daß man an Weihnachten nahezu 1000 Gaben brauchte. Neben der Kelter schlug eine Bombe ein und verwundete einen Knaben schwer am Bein, während seiner Mutter Gesicht mit kleinen Glassplitterwunden bedeckt war. Einmal wurde der gute Lämmle straffällig durch vorzeitiges Läuten, doch konnte der Kirchengemeinderat die Strafe abwenden. Ein andermal ging eine Bombe in der Gartenstraße nieder und bewies die Durchschlagkraft ihrer Sprengstücke, glücklicherweise ohne Manschen zu verletzen. Im allgemeinen haben die Bombenwerfer so schlecht gezielt und getroffen, daß sie einmal ein großes Loch in einen Weinberg droben in den Hetzen hineingeschossen haben, also recht weit weg von dem lohnendsten Ziel, den Daimlerwerken, in denen ja vor allem die Flugzeugmotoren gemacht wurden und eine ungeheure Schar von Arbeitern beschäftigt war. Im Volksmund hieß es, die Daimlerwerke dürfen sie nicht treffen, weil da internationales Kapital drin stecke. Ein Beweis für den Respekt vor den Kapitalmächten. So ist also durch die Flieger bei uns weniger Schaden als Unmuße angerichtet worden. Unmuße bei denen, die vorschriftsgemäß sich in den Keller setzten, auch wenn sie aus dem warmen Bett herausmußten. 

So kam das Jahr 1918 und jene großartige Frühjahrsoffensive, die unsere siegreichen Scharen bis in die Nähe von Amiens brachte. Man konnte sich freilich, auch für den Fall, daß es gelinge, Engländer und Franzosen auseinander zu sprengen, doch ein siegreiches Ende des wahnwitzigen Mordens nicht recht vorstellen. Denn nun erschienen in zunehmendem Maße die Amerikaner auf dem Kriegsschauplatz, gerufen von der raffinierten Lügenpropaganda und den gefährdeten Milliarden. Des deutschen Volkes Kraft aber ging zu Ende. Am 5. Oktober 1918 wurden vom Kirchengemeinderat zur neunten Kriegsanleihe noch einmal 4000 Mark gezeichnet.

[pag217] "Es ist nötig, das Äußerste zu tun." Man hat den Pfarrern aus ihrem Eintreten für diese Kriegsanleihen einen Vorwurf gemacht und sie Kriegsverlängerer gescholten, man hätte schon die Glocken nicht hergeben sollen und Frieden um jeden Preis machen. Aber daß der Friede nur um den Preis der Vernichtung zu haben war, hatte schon die Aufnahme des kaiserlichen Friedensvorschlags im Jahr 1916 gezeigt. Ein gefangener Engländer, mit dem ich in der Weinlese mich unterhielt, setzte mich in Erstaunen, mit welcher Sicherheit er darauf rechnete, daß sie es gewinnen. Daß dann Deutschland so absolut wehrlos am Boden lag, nachdem die Feinde ihre letzte Lügenprobe abgelegt und die Bedingungen, unter denen sie den Waffenstillstand angeboten, nicht gehalten hatten, das haben wir der Revolution zu danken. Und da spielt auch wieder Untertürkheim eine Rolle. Von den Daimlerwerken aus setzte sich jener große Demonstrationszug in Bewegung, der das Signal zur Revolution gab. Und dann wieder ist allen unvergeßlich jener Morgen, an dem Stahlhelme in der Cannstatter Straße erschienen und Fensterschließen geboten wurde. Der Kirchturm mußte geöffnet werden, da sollten die Spartakisten ein Waffenlager haben. Tübinger Studenten vor allem waren es, die damals der Revolutionsregierung zu Hilfe kamen gegen die bolschewistischen Spartakisten. 

Am 19. Dezember 1918 war der ganze Ort beflaggt zur Begrüßung der heimgekehrten Krieger. Auf die Gefangenen mußte man noch lange warten. Während Deutschland verpflichtet wurde, die Gefangenen alsbald freizulassen, haben vor allem die Franzosen das sadistische Bedürfnis gehabt, ihr Mütchen noch eine Zeitlang an ihnen zu kühlen und sie als Sklavenarbeiter zu mißbrauchen. Den Unterhalt mußte natürlich der Boche bezahlen; "Le boche payera tout" (Der Sauhund muß alles bezahlen), war noch lange die stehende Redensart der Franzosen, namentlich als es sich dann um die Reparationskosten handelte, die zum Teil in schwindelhafte Höhe hinaufgetrieben wurden. Die andere, noch gemeinere Schändlichkeit der Alliierten und Assoziierten war die Fortsetzung der jetzt vollends absolut völkerrechtswidrigen Blockade, weil dadurch Kinder und Greise, Schwache und Kranke getroffen wurden. Wie haben die Deutschen sich beeilt nach der Übergabe von Paris 1871, die Stadt mit Lebensmitteln zu versorgen! Deutschland war wirklich bis zum Ende des Kriegs bettelarm geworden. Wie viele sind barfuß oder doch barfuß in Holzsandalen gelaufen, ohne Hut, in altem Kittel! Einen neuen Rockt sich machen zu lassen, war ein verwegener Gedanke. Nachdem die Schweine massenhaft geschlachtet worden waren, weil sie den Menschen mehr Nahrung entziehen als liefern, war man genötigt, ganz fleischlose Wochen einzuführen. Und das Brot! Wer keinen guten Wagen hatte, war übel dran. Kein Mensch wußte, was alles dem Kriegsbrot beigemischt war. Beim Aussieben des Mehls fanden sich auch Laubteilchen. Eigentlich war ja das von den Kindern massenhaft gesammelte Laubheu zum Pferdefutter bestimmt. Auf der Kirchenbühne wurde es getrocknet, und Pfarrer und Rektor waren einmal eifrig damit beschäftigt, es zu verrechen. Wer kein Selbstversorger war, schaute wohl mit lüsternen Blicken nach einem richtigen knusperigen Brotlaib, der aus dem Gemeindebackofen kam. Im Mai 1918 wurde einmal eine Windelwoche veranstaltet und Sammler ausgeschickt, um Material für dieses erste Bekleidungsstück des Menschenkindes zusammenzubringen. Diese Bettelarmut hat noch lange fortgedauert. Am 12. März 1920 konnte der Beschluß gefaßt werden, "nachdem die in Frankreich Gefangenen in der Hauptsache zurückgekehrt sind, sollen sie im Vormittagsgottesdienst des Sonntags Judika begrüßt werden". 

Die Zeit nach der Rückkehr unserer Krieger kennzeichnet sich durch eine ganz unglaubliche Tanzwut. Das lange Entbehren äußerte sich ganz ungestüm. Bei den Buben war es eine fürchterliche Stauchwut. Die Kickers sind ja englischer Import. Es hat manchen Vater manches Paar Schuhe gekostet, daß der kleinste Knabe schon jede Konservenbüchse, ja einen Stein, der ihm in den Weg kam, auf der Straße herumstauchte. Schlimmer als das war die mit der Entwertung des Geldes in schreckenerregender Weise zunehmende Spekulationswut. Jeder Handlungslehrling wollte geschwind Millionär werden, und bald sollten wir alle Billionäre werden ! Etwas für die Gesundheit der Jugend Verderbliches war die Rauchwut. Im Felde hatten sich auch Nichtraucher das Rauchen angewöhnt. "Manchmal hat die Pfeife oder Zigarette den Hunger [pag218] betäuben mussten. Jetzt wurde das Zigarettenrauchen zu einer Sucht, die manche junge Lunge ruiniert bat. Und zu einer Zeit, da man noch am Notwendigen Mangel litt, wurden schon für l 1/2 Milliarden Zigaretten eingeführt, wie während des Kriegs, als viele hungerten, 9 Millionen Zentner Gerste zu Bier verarbeitet werden durften. Eine freundlichere Folge der Not des Kriegs und der Nachkriegszeit war der Eifer, mit dem alles ein Stücklein Land zum Anbauen begehrte. Da ist ein leider nur recht kleines Stück des Exerzierplatzes in kleinen Teilen wieder seiner ursprünglichen Bestimmung übergeben worden. Wenn so alle möglichen Leute das Land anbauen lernten, mag das immerhin den schlimmen Gegensatz zwischen Stadt- und Landbewohnern etwas gemildert haben. Als die Preise immer höher stiegen, hörte man nur noch über die wucherischen Bauern schimpfen, denen man in anderen Zeiten ohne die geringsten Gewissensbisse ihre Erzeugnisse um einen wucherischen Spottpreis abgenommen hatte. Eine andere Not, die die Rückkehr unserer Truppen mit sich brachte, war die Wohnungsnot. In den zwei ersten Jahren nach dem Krieg wurden hier etwa 180 Ehen geschlossen. Wo sollten die alle unterkommen ? Man schränkte sich aufs äußerste ein. Es gab greuliche Notwohnungen. Auch die Hausbesitzer hatten schlimme Zeiten, da ein Haus mehr ein fressendes als ein rentierendes Kapital darstellte. In der Gartenstadt wurde von 1920 an wieder gebaut; aber die Häuschen, so einfach sie waren, kosteten trotz Zuschuß 40 000 Mark, und es ist allmählich so gekommen, daß in den meisten "Einfamilienhäusern" zwei hausen. Die Stadt baute ein großes Wohnhaus an der Stelle der abgebrannten Zehntscheuer, später ein noch größeres, zu dem ein Stück der Kelter und "die langen Dächer" verwendet wurden, eine von der Stadt erworbene interessante Häuserruine. Sodann wurden im Wallmer 4 Reihenhäuser für etwa 100 Familien gebaut. Aber erst als 1930 mit dem "neuen Wallmer" Wohnungen für 300-400 Familien geschaffen waren und die Wangener ihren "Wallmer" bekommen hatten, war der dringendsten Wohnungsnot gewehrt, und die allmählich gemilderte Zwangsgewalt des Wohnungsamtes konnte soweit aufgehoben werden, daß sie nicht mehr schmerzte. Seitdem hat nun das Siedlungswesen und der Bau von Kleinwohnungen mächtig zugenommen, und die Gartenstadt hat im Jahr 1933 ihr Areal vollends überbaut und auch schon ziemlich über die Fellbacher Straße hinüber sich ausgedehnt. 

Die Wohnungsnot ist auch schuld gewesen, daß die zweite Pfarrstelle, von der schon so lange die Rede war, erst nach Weihnachten 1921 besetzt werden konnte. Im kirchlichen Leben war das Jahr 1919 ein recht bewegtes, handelte es sich doch um eine Neuordnung der Kirche, nachdem die Revolution die Trennung von Kirche und Staat zum Grundsatz erhoben hatte. Es mußte eine verfassunggebende Landeskirchenversammlung gewählt werden, und die Frauen waren jetzt auch wahlfähig und wählbar. Es wurden Gemeindeversammlungen, eine über die Bekenntnisfrage, in der Kirche gehalten. Dann stellten sich in der Kirche die Kandidaten der beiden Richtungen der Gemeinde vor. Bei der im November folgenden Kirchengemeinderatswahl wurden Vorschläge der Gemeinschaften und der Demokratischen Partei eingereicht, und Moritz Gaßmann, der auch in die Landeskirchenversammlung gewählt worden war, Hengstberger, Wied mann, A. Kurtz, Weber, Steudle, H. Schwerer, Altkirchenpfleger Warth und Christoph Gaßmann gewählt. Eine Frau gelangte nicht in den Kirchengemeinderat wie in Wangen. Von 4328 haben 1081 abgestimmt. Der neugegründete Evangelische Volksbund, "eine Organisation, gegründet zur Verwirklichung und Verteidigung der evangelischen staatsfreien Volkskirche", hat auch hier eine allerdings nicht große Anzahl von Mitgliedern gewonnen. Er bat vor allem durch den Evangelischen Preßverband der Kirche einen unumgänglich notwendigen, segensreichen Dienst geleistet und in späteren Jahren unserer Gemeinde immer wieder Vortragende geliefert. Am 30. Juni 1919 wurde Rektor Mast im Kirchengemeinderat verabschiedet "mit Worten warmen Dankes und aufrichtiger Anerkennung seiner Verdienste um den Kirchengemeinderat und die ganze Gemeinde". Er siedelte zu neuer außeramtlichen Tätigkeit ins Remstal über. Sein Nachfolger wurde Rektor Hengstberger. Schon vor dem Krieg wurde entsprechend dem neuen Schulgesetz das achte Schuljahr eingeführt und auch während des Kriegs trotz aller Schwierigkeiten durchgehalten. Es mußten freilich so viele Dispensationen bewilligt werden, [pag219] daß Buben und Mädchen von Untertürkheim und Wangen in einer Klasse der Lindenschule Platz hatten. Daß Schule und Schulzucht unter den Kriegs-, ,Revolutions- und Nachkriegsjahren gelitten haben, ist begreiflich. In den sogenannten fliegenden Klassen, die von allen möglichen Lehrern unterrichtet wurden, ist nicht viel gelernt worden. Wenn die Zucht mangelhaft war, hieß es wohl: "Ja, die Väter fehlen eben." In Wirklichkeit war es aber öfters so, daß es an den Vätern fehlte. Darauf weist es doch hin wenn 1920 am 18. Januar noch nicht einmal die Hälfte der Knaben in den Konfirmandenunterricht kamen. Es begannen ja jetzt auch die Abmeldungen vom Religionsunterricht, um den so heftig gekämpft wurde. Im Februar 1920 wurde auch eine Gemeindeversammlung in der Kirche zur Besprechung der Schulfrage gehalten. Auf der andern Seite war es ein Zeichen der Zeit, daß bei Daimler in diesem Jahr eine Aussperrung und dann eine umfangreiche Entlassung vorgenommen wurde. Die Arbeitslosigkeit erhob als drohendes Gespenst ihr Haupt. 

Eine große Arbeitsgelegenheit bildete die Neckarkorrektion. Um Platz für die Bahn zu gewinnen, mußte der Neckar verlegt werden. Die alte Brücke, die in den fünfziger Jahren als die erste Gitterbrücke sich einen Namen gemacht hatte, wurde abgebrochen. Ein Stück davon bildet den Steg über die Verbindungsbahn an der Kienbergstraße. Die Fundamentierung des Bahndurchlasses im Neckarbett erforderte starke Sprengungen, und die Stücke flogen bis ins Höfle des Pfarrhauses herüber. Durch den Stichkanal zum Elektrizitätswerk wurde dann die Badeinsel gebildet, deren Stadion nun Tausenden von Großstädtern die erwünschte Badegelegenheit gibt in ganz anderem Umfang als einst das Wellenbad an der Neckarlust.
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An Evangelisationen hat es in den ersten Nachkriegsjahren nicht gefehlt. Im Januar 1915 hatte der Evangelist Richter mit geistlicher Demagogie die Kirche gefüllt. Im Jahr 1919 war es die landeskirchliche Gemeinschaft unter Leitung der Brüder Munder, die im [pag220] Konfirmandensaal und dann in der Kirche eine Evangelisation veranstaltete. 1920 hielt Obersekretär Elsäßer in (Gemeinschaft mit dem Pfarrer zehn Evangelisationsvorträge in der Kirche. Eine Evangelisation unter Frauen und Mädchen, durchgeführt von einer Untertürkheimerin, Schwester Lina Haug, führte zur Gründung eines Mädchenjugendbundes neben dem Jungfrauenverein. Im regelmäßigen Gemeindedienst wurden neben den Bibelstunden auch den Sommer über Bibelbesprechstunden gehalten, und längere Zeit allmonatlich Abende des Evangelischen Bundes und Volksbundes, dessen Vorstand Lehrer Wiedmann war. Die nächste Evangelisation fand dann erst im Jahr 1924 durch Missionar Vielhauer statt. 

Während des ganzen Kriegs hat es nie ein eigentliches Fehljahr an Wein und Obst gegeben. Nachdem der Herbst 1920 sehr verschieden ausgefallen war, wurde der 1921er recht gut. Die Wärme war noch zur Zeit der Lese so groß, daß der Wein schon in den Bütten zu gären anfing und eine ungewöhnlich dunkle Färbung bekam. Der Eimer kostete 4000-5000 Mark. Die Teuerung war in diesem Jahr schon so weit fortgeschritten, daß man für einen Zentner Kartoffeln 70 Mark, für ein Liter Milch 3 Mark bezahlen mußte, unser Geld war so entwertet, daß der Franken 50, der Dollar 300 Mark galt. In diesem Jahr hat nach kurzem Dienst Ernst Kreder, "das Muster eines Mesners, der seinen Dienst mit dem Herzen versah", denselben seiner Frau zurückgelassen, die in den Fußstapfen ihres Mannes wandelnd, für ihre Kirche mütterlich besorgt war. Besonders in der schwierigen Inflationszeit verstand sie es trefflich, die Leute gebewillig zu machen. In der Gartenstadt, in der von 1920 an wieder jedes Jahr ein Los gebaut wurde, wurden 111 Unterschriften um Einrichtung regelmäßigen Gottesdienstes in der von der Stadt erbauten Kinderschulbaracke gesammelt. Im Sommer 1921 wurde einmal ein Gottesdienst auf dem freien Platz gehalten. Als die Städtische Schulpflege die Erlaubnis zur Benützung des leerstehenden Kindergartensaals gegeben hatte, wurde vom 5. März 1922 an alle 14 Tage Gottesdienst gehalten. Bibelstunde ist am Mittwochabend jahraus, jahrein bis auf den heutigen Tag gehalten worden, wenn auch manchmal mit einem sehr kleinen Häuflein. Ebenso wurde den Gemeindegliedern ein Kindergottesdienst, zuerst in Verbindung mit der Evangelischen Gemeinschaft, eingerichtet. Im September wurde das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Diakonissenstation feierlich begangen. Die in diesem Jahr einsetzende Kirchenaustrittskampagne hatte den Erfolg, daß 61 männliche und 30 weibliche Gemeindeglieder mit 12 Kindern die Kirche, in die sie hineingeboren worden waren, mit der sie aber jeden Zusammenhang verloren hatten, verließen. Mit dem Schluß des Jahres konnte nun auch endlich, nachdem eine genügende, freilich sehr unruhige Wohnung am Ende der Urbanstraße gefunden war, der zweite Stadtpfarrer Haap, von Neckartenzlingen kommend, aufziehen. Am 20. Januar wurde er bei einem Gemeindeabend begrüßt. Das Stadtvikariat war mit der Errichtung der zweiten Pfarrstelle aufgehoben. Stadtpfarrer Haap nahm sich des Jünglingsvereins an, dessen Bezirksvorstand er geworden ist. Seine Frau gründete einen Mädchenverein neben dem Jungfrauenverein und Jugendbund. Es gab genug junge Mädchen, um diese drei Vereine vollzählig zu erhalten. Nachdem Lehrer Wiedmann zurückgetreten war, wurde Stadtpfarrer Haap zum Vorstand des Evangelischen Volksbundes gewählt, den er dann in einen Gemeindeverein umwandelte. Ebenso hat er mit Stadtpfarrer Binder in Wangen die Vorstandschaft des Kinderferienheims übernommen. 

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Schon lange hatte sich die Gemeinde um Wiederherstellung ihres Geläutes gemüht. Als man aber dank einer Hauskollekte mit 8695 Mark und einer Gabe aus Amerika von 9680 Mark die ursprünglich vorgesehene Summe so ziemlich beieinander hatte, stellte es sich heraus, daß das Glockengut im Jahr 1920 50 Mark pro Kilogramm kostete. Doch gelang es, bis 1921 die Kosten mit Hilfe zweier weiterer Amerikanergaben zusammenzubringen, und am 23. Februar wurden die von Glockengießer Kurtz in Stuttgart gegossenen Glocken feierlich eingeholt. Der alte Pfarrer hielt vom Wagen herunter eine Ansprache, und die versammelte Menge sang mit Begleitung des Posaunenchors und der Feuerwehrmusik. Am Sonntag darauf, den 26. Februar, wurden im Gottesdienst die Glocken eine um die andere und dann alle zusammen geläutet. Jetzt hieß es nicht mehr eintönig: "Kommt, kommt!", sondern im
Dreiklang: "Kommt alle, [pag221] kommt alle!" Auf der größeren Glocke steht zum Gedächtnis der Amerikagaben: "Von fern überm Meer, der Heimat geweiht, zu des Herrn Jesu Ehr, künd' ich Liebe allzeit." Auf der kleinen: "Zerschlagen zu des Vaterlandes Wehr, gegossen wieder neu zu Gottes Lob und Ehr." Mit der Wiedereinsetzung der Prospektpfeifen wurden dann die letzten Kriegsspuren ans dem Gotteshaus entfernt. Der Wunsch des Organisten Keinath, daß auch die Orgel erneuert werden möchte, ging in Anbetracht der unerschwinglichen Preise nicht in Erfüllung. Dagegen nahm der Organist Ende des Jahres selbst seinen Abschied. An Silvester 1922 hat er zum letztenmal gespielt, und Stadtpfarrer Lechler dankte für seinen fünfundzwanzigjährigen Dienst: "Wie oft haben wir uns nicht bloß an seiner trefflichen Begleitung des Gesanges, sondern namentlich auch an seinen prächtigen Vor- und Nachspielen ergötzt und erbaut!" Er war ein verständnisvoller, hilfsbereiter Mitarbeiter bei der Ausgestaltung des Gottesdienstes und hat wesentlich dazu beigetragen, daß hier so viele Melodien gehen. Am 3. September 1922 hat die (Mundersche) Landeskirchliche Gemeinschaft ihren neuerbauten Saal eingeweiht. Am Reformationsfest wurde ein Parallelgottesdienst in diesem Saal gehalten, nachdem schon beim Bau der Kirchengemeinderat Verhandlungen wegen Mitbenützung gepflogen und einen Beitrag angeboten hatte. In den letzten Jahren ist regelmäßig Kindergottesdienst und Bibelstunde für Bezirk II dort gehalten worden, während die Parallelgottesdienste sich auf einzelne Tage, wie Karfreitag und Silvester, beschränkten. 

Mit dem Jahr 1923 hatte die Inflation ihren Höhepunkt erreicht. Zu dem rasenden Aufstieg der Dollarpreise trug wesentlich die letzte Heldentat der Franzosen, die "friedliche Ingenieurkommission", bei, die mit Tanks und Kanonen und Regimentern in das Ruhrgebiet entsandt wurde. War Anfang 1922 der Dollar noch um 200 Mark zu haben, so galt er bis zum Ende des Jahres 10 500. Mit dem Ruhreinbruch stieg er auf 43 000, bis Mai 60 000, Juni 105 000, Ende Juli 1 Million. Anfang Oktober hatte er die Milliarde erreicht und bis Mitte [pag221 ]November die Million überschritten. Dementsprechend stieg das Pfund Schweinefleisch 1921 von 15 auf 800 Mark und so fort, bis es Ende Oktober 7 Milliarden und schließlich 2 Billionen 100 Milliarden - 2,10 Goldmark erreichte. Es war eine aufregende Zeit. Das Geld, das man einnahm, konnte nicht schnell genug ausgegeben werden; was man kaufte, nicht schnell genug bezahlt werden. Alte Leute, die sich in dieses Hetzen nicht finden konnten, sparten, wie sie es gewohnt waren, ihr Geld, das Sie z.B. für Prestlinge eingenommen, um Kohlen dafür zu kaufen, und bis der Kauf geschlossen wurde, bekamen sie statt einem Zentner nicht einmal ein Pfund. Alten ehrlichen Handwerkern war es zuwider, so hohe Preise zu fordern, und darüber verdienten sie nichts. Die Kirchenpflege hatte in kürzester Zeit die Kirchensteuer des Jahres 1923 ausgegeben und sollte doch Gehälter bezahlen. So konnte man sich nur noch auf das sonntägliche Opfer verlassen, und mit ihm und freiwilligen Gaben hat sich die Kirchengemeinde durch die üble Zeit durchgeschlagen. Als man notwendig ein neues Glockenseil brauchte, machte die treue Mesnerin eins ums andere willig, ein oder ein paar Meter daran zu zahlen, und wir bekamen das Glockenseil, ohne Schulden machen zu müssen. Im Herbst wurden von den Weingärtnern an der Kelter 200 Liter Wein gesammelt, so mußte man keinen Abendmahlswein anschassen. Der Krankettpflegeverein hatte an das Diakonissenhaus, das wie alle Anstalten in der größten Not war, stets steigende Summen zu zahlen, und die beschlossenen Extrabeiträge reichten nie aus. Bis sie gesammelt waren, hatten sie den Wert verloren. Da beschloß der Ausschuß, um mit dem Steigen des Preises Schritt zu halten, monatlich den Wert eines Doppelweckens einzuziehen, und die Ausschußmitglieder zogen nun fröhlich ihrem Doppelwecken nach. Eine Brezel kostete Anfang des Jahrs 25 Mark, zuletzt 45 Milliarden - 4 1/2 Goldpfennig. Als Kirchenchordirigent war auf Lehrer Wiedmann, der den Chor so lange geleitet und auf eine erfreuliche Höhe gebracht hatte, Lehrer Stolz gefolgt. Er verzichtete nun auf jede Belohnung und hat doch seine Buben, ohne daß sie hungern mußten, durch die teure Zeit durchgebracht. 

Das Ende des Jahres brachte die Rentenmark, die den alten Dollarpreis wiederherstellte, der Frank galt sogar nur 73 Goldpfennige. Aber nun begann erst der Jammer, denn die Regierung erklärte: Mark ist Mark, und alle die Leute, meist Alte und Arbeitsunfähige, die von ihren Zinsen gelebt hatten, waren nun um ihr Geld betrogen und mitunter bettelarm geworden. Vor allem wurden die Milliarden von Kriegsanleihen, die man seinerzeit als mündelsicher angepriesen hatte, beinahe werflose Papiere. Sie sollten zu einem geringen Prozentsatz ausgelost werden, und mancher, der Tausende dem Staat geliehen, wartet heute noch, wenn er es nicht vorzog, sein Papier um etliche Mark zu verkaufen. Wie viele, die im Profit gewesen waren, wie gut sie ihre Häuser oder Grundstücke verkauft haben, hatten nun statt des Sachwerts nur noch etliche Rentenmark und waren um ihren Besitz betrogen. Denn nicht bloß der Staat, sondern auch die Privatleute hatten gemäß der Aufwertungs-, richtiger Entwertungsgesetzgebung ihren Gläubigern nur noch einen Prozentsatz, höchstens 25 v. H. zu zahlen. Und die Schuldner machten sich das natürlich zunutze. Man berichtete es als eine Wunderleistung, wenn es Leute gab, die eine Schuld im vollen befrag heimzahlten, und hielt das wohl für eine Dummheit, wie man auch sagen hörte: "Ich bin auch so dumm gewesen und habe mein Gold und mein Kupfer alles hergegeben." Freilich gab es nur zu viele, die wirklich nicht hätten bezahlen können. Und das Deutsche Reich, das seine Bürger so jämmerlich betrogen und bestohlen hatte, mußte nun dafür seinen Peinigern, den sogenannten Siegerstaaten, umso mehr bezahlen. Es hatte ja nach ihrer Ansicht seine Kriegsschulden los und also alle Ursache, den an Amerika verschuldeten Siegern die ihren zu zahle". 

Das Jahr 1923 war für Bohnen und Gurken nicht günstig, dagegen ist in dem heißen Sommer ein guter Wein gewachsen, während das folgende Jahr einen Fehlherbst brachte. Umgekehrt fehlte es dann nicht an Obst und Gemüse, nur daß die Einfuhr von Trauben und Südfrüchten das einheimische Obst fast unverkäuflich machte. Mit dem Jahr 1923 hat Lehrer Gießer den Organistendienst übernommen, und es war erfreulich zu sehen, wie er mit größtem Fleiß und Gewissenhaftigkeit sich in dienen Dienst eingearbeitet hat und von Jahr zu Jahr gewachsen und mit seiner geliebten Orgel zusammengewachsen ist. Im August [pag222] wurde auch das Stadtvikariat wieder besetzt und Stadtvikar Frick als Katechet für Untertürkheim und Wangen angestellt. In der Gartenstadt wurde nun allsonntäglicher Gottesdienst eingeführt. 

Im Jahr 1924 wurde zum erstenmal eine Landeskirchensteuer eingezogen. Es war ein Übelstand, daß man für dieselbe wegen der Inflationsjahre keine Grundlage hatte und so auf Schätzung angewiesen war, und "schätzen kann fehlen". Dabei ist es natürlich immer so, daß nur die zu hoch Eingeschätzten sich beschweren. Ein Kirchenkonzert des Kirchenchors hat "den alten Leutlein" gegolten und in manches Altenstüblein Freude gebracht. Mit dem Jahr 1924 wurde das große Werk der Neckarverlegung beendigt, und in stattlicher Breite zieht der Fluß unter der neuen Brücke durch, deren bewegliches Wehr im Verein mit den hohen Uferdämmen jede Überschwemmung unmöglich macht. Auf diesen Dämmen haben wir den schönsten, mit Ruhebänken versehenen Spazierweg. 

In der Gartenstadt sind es bis zum Jahr 1925 245 Häuser geworden. In der Person Sigmund Schweizers, den man den Organisator des kirchlichen Lebens der Gartenstadt nennen könnte, hat sie auch den ersten Vertreter im Kirchengemeinderat bekommen. Er wurde als Ersatz für Rektor Hengstberger gewählt, der aus Gesundheitsrücksichten austrat. Im Vereinsgarten draußen ist unter Leitung von Stadtpfarrer Haap an Stelle des Zeltes, das in dem regenreichen Sommer 1924 sich wenig bewährt hat, für das Ferienheim eine Daimlerbaracke zu einem geräumigen Saal eingerichtet worden, der mit einem Gartenfest des Gemeindevereins eingeweiht wurde. 

Am 14. September 1925 wurde das fünfzigjährige Jubiläum des Altkirchenpflegers Warth auf seinen Wunsch im Kreis der Familie und des Kirchengemeinderats in der Sakristei festlich und traulich begangen. Seinen Sitz im Kirchengemeinderat behielt er vorderhand bei. In den Jahren 1925 und 1926 wurde die Außenrenovation der Kirche und des Turmes vollendet und nach Pfingsten elektrisches Geläute eingerichtet. Läutbuben waren nicht mehr zu haben, und Erwachsene wären viel teurer gekommen. Der alte Wunsch nach einer Galerie am Turm zum Choralblasen, der als unerfüllbar aufgegeben werden mußte, hat sich dahin gewandelt, daß auf dem der Straße zugekehrten Giebel der Kirche ein Storchennest (für die Untertürkheimer Störch) gebaut werden soll, von dem aus der Posaunenchor, ohne von der drangvollen Enge des Türmchens beschwert zu werden, seine Lieder blasen könnte. Geopfert und Geld gesammelt wurde inzwischen; wann aber das Storchennest Wirklichkeit wird, steht dahin. 

Durch die Kirchengemeinderatswahl 1925 kamen neu herein Oberlehrer Bofinger und Stadtrat Harrscher. Julius Lang als Vertreter des Kirchenchors wurde nach dem Tode Christoph Gaßmanns als Ersatz gewählt. Als etwas Besonderes ist zu erwähnen, daß eine gemeinsame Schuljugendweihnachtsfeier 1926 in der Kirche gehalten wurde. Im Jahr 1925 hat die 

Blick zum Rathaus in der Lange Straße [pag224] Zahl der Taufen mit 67 ihren Tiefstand erreicht. Auch in den Kriegsjahren ist sie nicht unter 112 gesunken. Dagegen waren es schon 1924 nur 72, 1926 81, die Höchstzahl 1931 mit 116, dann wieder unter 100. Wohl nahm die Arbeitslosigkeit zu, und die Entlassungen und Arbeitsverkürzungen mehrten sich daß einer froh sein mußte, noch 24 Stunden in der Woche arbeiten zu dürfen. Auch die Wohnungsnot war noch nicht behoben trotz der Erbauung des "alten Wallmers". Aber der tiefste Grund solchen Rückgangs ist doch der Mangel an Mut zum Kind und an Freude am Kind und an dem Glauben der Väter, daß Kinder eine Gabe Gottes sind. Im Jahr 1926 legte Rektor Hengstberger Sein Amt nieder, und an Seine Stelle trat Rektor Fecht, der aber Schon im Jahr 1929 durch Rektor Kling ersetzt wurde. Weil aber dessen politische Tätigkeit ihm die Führung der Rektoratsgeschäfte unmöglich machte, trat Oberlehrer Gießer jahrelang für ihn ein, bis die Minderung der politischen Verhältnisse Rektor Kling die volle Führung seines Amtes ermöglichte. Mit dem Jahr 1926 fing Stadtpfarrer Haap ein Gemeindeblatt an, das bald 1300 Abonnenten zählte, und auf 1. Oktober wurde Elisabeth Hummel als Gemeindehelferin angestellt. Auch dem Ziel des Pfarr- und Gemeindehauses kam man näher durch Vergrößeruug des Bauplatzes im Äckerle um den Gustav Zaißschen Weinberg. Oberbaurat Otto spielte freilich Zukunftsmusik, als er dem Kirchengemeinderat eine stattliche Kirche am Ende der Scherrenstraße vormalte. 

Nachdem Oberlehrer Stolz die Leitung des Kirchenchors niedergelegt hatte, wählte der Kirchenchor Hermann Weidle zum Dirigenten. Der Kirchengemeinderat gab nachträglich seine Zustimmung. Im November wurde die wesentlich verbesserte Orgel wieder in Gebrauch genommen. Wenn auch nicht alle Wünsche des Organisten erfüllt worden waren, so freute er sich doch des Gewonnenen. Für Stadtpfarrer Haap war es eine Freude, daß er eine staub- und rauchfreie Wohnung in dem still und frei gelegenen Charlottenbau fand. Nach dem Scheiden Stadtvikar Pflomms, der Pfarrer Eberle während seiner Evangelisation hier und seiner Erkrankung vertreten hatte, traten für einige Zeit Religionshilfslehrer an die Stelle des Stadtvikars. Der erste war Stöckle, der letzte Schurr. Er hat 2 Jahre lang in zwanzig und mehr Stunden Religionsunterricht an den hiesigen Schulen gegeben. 

Um der Wohnungsnot weiter zu steuern, hat die Stadt das große Wohngebäude zwischen der Langen und Bachstraße errichtet. Bei den Abbrucharbeiten fand man einen alten Steuerschein. Überm Neckar drüben wurde eine Kleinsiedlung, gemauerte Baracken mit Zweizimmerwohnungen, hergestellt. Obgleich sie die Fortsetzung der Wangener Untertürkheimer Straße ist, wurde doch die Versorgung dieser Siedlung, weil sie auf Untertürkheimer Markung liegt, dem Untertürkheimer Pfarramt zugeteilt. Der wild liegende Platz bis zur Straße ist später hauptsächlich von den Bewohnern der Untertürkheimer Straße eingeebnet und hergerichtet worden und ist nun ein ganzes Schrebergartendorf geworden. 

Während in Fellbach eine stattliche neue Kirche in eigenartigem Stil, die Pauluskirche, und in Obertürkheim ein mit drei Glocken versehenes Gemeindehaus in musterhafter Vollendung und wünschenswerter Lage eingeweiht werden konnte, ist Untertürkheim über eifriges Beraten und Plänemachen nicht hinausgekommen. Dagegen konnte im Juni 1927 endlich das Gefallenendenkmal eingeweiht werden. Der Vorsitzende des Denkmalausschusses, Oberlehrer Gießer, hat viel Arbeit gehabt und viel Sitzungen halten müssen, bis dieses Ziel erreicht war. Im Inflationsjahr haben die Tausende, die inzwischen gesammelt worden waren, kaum gereicht, um dem Künstler Kiemlen, als er einmal bei uns war, ein Vesper zahlen zu können. So mußte man auch da von neuem zu Sammeln anfangen. Eine der letzten Gaben war das Vermögen des aufgehobenen Verschönerungsvereins. Das Denkmal steht jetzt in einer durch das Entgegenkommen der Stadt möglichst günstig gestalteten Umgebung. Die Tafeln enthalten 230 Namen, nicht alle von hier Ausgerückte, dagegen manche Bürgersöhne, die von anderen Orten aus ins Feld gezogen sind. Es war trotz der Ungunst der Witterung ein schönes Fest, das einmal wieder die ganze Gemeinde Untertürkheim vereinigte, und alljährlich sprechen bei der Gefallenengedenkfeier die Pfarrer beider Konfessionen.

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Es ist ein obstreiches Jahr gewesen, und wenn es nicht eben viel Wein gab, so löste man dafür bis zu 240 Mark für das Hektoliter. Das Jahr 1928 brachte dann einen guten Herbst und doch einen Preis von 500-530 Mark für den Eimer. Im Jahr 1927 wurde dank der Arbeit der Gemeindehelferin ein Altenmittag gefeiert vom Gemeindeverein aus, zu dem alle, die siebzig und mehr Jahre hinter sich haben, geladen werden. Das Entgegenkommen der Daimlerleitung macht es möglich, die Schwachen und weit Entfernten im Kraftwagen zu holen und heimzubringen. Dieser Altenmittag hat sich schnell eingebürgert und ist ein Tag, auf den sich die Alten schon lange vorher freuen.

Im Januar 1928 legte Altkirchenpfleger Warth auch sein Amt als Kirchengemeinderat nieder, und für ihn wurde in Ludwig Grundler ein zweiter Vertreter der Gartenstadt gewählt. Da die Kindergartenbaracke in der Gartenstadt am zusammenbrechen war, baute die Stadt einen mit allen modernen Einrichtungen ausgestatteten Kindergarten. Die Erlaubnis, den zweiten, einstweilen unbenutzten Saal für ihre Gottesdienste einzurichten, wurde der Kirchengemeinde erteilt, aber unter der Bedingung, daß sie möglichst bald für ein eigenes gottesdienstliches Lokal sorge. So mußte die Pfarr- und Gemeindehausfrage einstweilen zurückgestellt und aller Nachdruck auf einen Bau in der Gartenstadt gelegt werden. Auf den Rat von Oberbaurat Otto wurden dann zwei Gärten von 21,42 und 8,89 a um 21 000 Mark gekauft; aber die Bausumme hätte die Gemeinde ohne wesentliche Erhöhung der Kirchensteuer nicht einmal verzinsen, geschweige denn abzahlen können. Da griff der Oberkirchenrat ein, und der Bau eines Kirchsaals mit Pfarr=, Mesner= und Schwesternwohnung darüber wurde von ihm übernommen, die Kirchengemeinde aber hatte nur 50 000 Mark daran zuzahlen. Dazu kamen dann noch die Kosten von Türmchen und Glocken, die ursprünglich nicht vorgesehen waren. Im Oktober 1929 wurde der Beschluß gefaßt, am 18. Oktober 1931 das Kirchlein eingeweiht. Mitten in den Obstgärten stehend, erscheint es wie der Hirte, der vor der Herde der Gartenstadthäuser hergeht. Die Baugenossenschaft Luginsland hat schon im Jahr 1926 ein stattliches Gebäude[pag226] mit großem Saal und Nebensälen und 14 Wohnungen hergestellt und damit eine eigene Bäckerei und Metzgerei sowie eine Mosterei verbunden. Als die Kindergartenbaracke abgebrochen war, erstand auf diesem Platz ein weiterer Bau für Konsumvereinsladen und Milchabgabe. Und über den Wohnungen im ersten Stock schlägt eine Uhr. Drüben im Weingarten aber wurde ein Bau errichtet mit Bibliothekraum neben den Wohnungen, mehreren Autoställen (Garagen sagt der Deutsche) und dem genossenschaftlichen Kohlenschuppen. Im Jahr 1928 bekam die Gartenstadt auch die längst gewünschte eigene Krankenschwester, die nach ihrer offiziellen Einführung von den Frauen mit einem Festkaffee im Saal des Ferienheims begrüßt wurde und den Gartenstädtern alsbald unentbehrlich geworden ist. 

Am Pfingstsamstag 1928 aber ist Stadtpfarrer Haap erkrankt. Eine Trauung konnte er noch halten, eine Beerdigung und der übrige Dienst fiel dem alten Pfarrer zu. Erst im Juli konnte ein Vikar gesandt werden. Aus einer unscheinbaren Verletzung am Bein hatte sich eine bösartige Venenentzündung entwickelt, die ihn an den Rand des Grabes brachte, und als die Krankheit nachließ, ging es doch noch bis Frühjahr 1929, bis er allmählich sein Amt wieder übernehmen konnte. Am 9. März 1929 wurde er auf einem Gemeindeabend als genesen begrüßt. Im Sommer 1928 feierte die Freiwillige Feuerwehr ihr fünfzigjähriges unter allgemeiner Beteiligung der Einwohnerschaft, die ihr den langjährigen treuen in Erfüllung des Wahlspruchs "Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr" zu danken hat. 

1929 folgte auf einen unerhört kalten Winter ein unerhört fruchtbares Jahr. Aber nach dem Aufschwung der letzten Jahre nahm die Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, bis zu einem Tag in der Woche, wieder zu, und bald war die Million Arbeitsloser erreicht. Am 1. Mai kam Stadtvikar Binder nach Ulm, im September wurde sein Nachfolger Frasch abgerufen, und erst im Juli 1930 kam Stadtvikar Stahl hierher. Durch den Tod der treuen Mesnerin erlitt die Gemeinde einen wirklichen Verlust. Doch hat ihre Tochter Elise im Verein mit ihrer Zwillingsschwester sich alle Mühe gegeben, der Mutter Stelle zu versehen. Im Jahr 1930 ging die Arbeitsnot weiter, und bis Ende des Jahres waren es über drei Millionen Arbeitslose. Mit der Vollendung des "neuen Wallmer" wurde dieser Teil der Gemeinde dem zweiten Stadtpfarramt zugesprochen. An dem großen Gustav-Adolf-Fest in Stuttgart hat sich auch unsere Gemeinde beteiligt. Im Ehelichen Verein junger Männer ist Sekretär Hoffmann, für den sich die Jungen begeistert hatten, jählings ausgetreten, und nachdem Sekretär Müller wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, mußte der Verein sich ohne Sekretär behelfen. Als Vorstand wurde nach dem Rücktrift des langjährigen treuen und verdienten Leiters Moritz Gaßmann Immanuel Warth, gewählt, der dann gleich im folgenden Jahre die Feier des fünfzigjährigen Jubiläums leiten durfte. 
Krieigerdenkmal Kiemlen

Im Jahr 1931 hat die Pumpwirtschaft, die Staat, Städte und Industrie jahrelang getrieben hatten, an den Staatsbankrott geführt. Nun kam eine Notverordnung um die andere, und zwar trafen diese Notverordnungen gerade auch dahin, wo die Not schon groß genug war, indem die kargen Beträge der Arbeitslosen und Sozialrentner gekürzt wurden. Auch die Landwirtschaft löste nichts aus ihren Produkten, und doch war es ein ungeheuer obstreiches Jahr. Für die Gartenstadt brachte das Jahr 1931 die Vollendung ihres Kirchleins. Die Pfarrwohnung wollte der Oberkirchenrat nicht ausbauen lassen; da machte Stadtpfarrer Lechler den Vorschlag, er wolle sich pensionieren lassen und als Pfarrverweser das Stadtpfarramt III in der Gartenstadt übernehmen, zu dem alles, was auf dem Berg liegt, gehört. So wurde das Ganze ausgebaut und das Kirchlein am 18. Oktober eingeweiht und Stadtpfarrer Lechler bei einem Gemeindeabend am 24. Oktober verabschiedet als vierundzwanzigjähriger Pfarrer der Gemeinde Untertürkheim. Das schönste Abschiedsgeschenk wurde ihm überreicht mit der Farbenskizze, nach der der Künstler Schmank die Untertürkheimer Bergpredigt für die Wand neben der Kanzel malen sollte. Das Veteranenbild hatte beim Weißnen der Kirche schon seinen Platz über der Emporkirchentreppe gefunden. Als Geschenk der Weingärtner wurde eine riesige Kalebstraube noch in der Nacht bis in den Chor des Kirchleins gebracht. Sie hat noch manches erquickt.

Für die Not der Zeit wurde den Winter über von der Inneren Mission ein von den Pfarrämtern und Vereinen unterstütztes, wohlorganisiertes Hilfswerk eingerichtet, das dann im Dritten Reich vom Staat mit größeren Mitteln und in größerem Stil fortgesetzt worden ist. In diesem Jahr ist Schwester Regine, die Leiterin der hiesigen Diakonissenstation, zu der auch Rotenberg gekommen ist, aus ihrer unermüdlichen treuen Tätigkeit abgerufen worden. Von 1907 an hat sie in aufopferungsvoller Arbeit der Gemeinde gedient an Kranken und Armen. Im Januar 1932 wurde das Pfarrhaus bezogen von Stadtpfarrer Dieterich, der von AdeIberg kam, während Stadtvikar Stahl dort Pfarrverweser wurde und an seine Stelle Stadtvikar Wertz trat. Stadtpfarrer Dieterich hat mit Jugendkraft und Eifer den Dienst übernommen und in kurzer Zeit das Herz der Gemeinde gewonnen. In der Sommervakanz zog er mit Frau und Kindern ins Ferienheim, um dasselbe zu leiten. Am 18. Juni 1932 wurde die Konzession der Apotheke dem Stiefsohn des seitherigen Inhabers Zluhan, dem Dr. Eduard Niethammer, verliehen.

Während der Herbst gut war und die Kornernte im letzten Augenblick noch vor dem Ersaufen gerettet wurde, nahm die Weltkrise und die dadurch hervorgerufene allgemeine Not unaufhaltsam zu. 5-7 Millionen Arbeitslose sollten verhalten werden. Nirgends ging ein Geschäft und natürlich immer weniger, je mehr die Gehälter und Löhne verkürzt wurden. Der einzige Lichtblick in dieser trüben Zeit war die Einrichtung von freiwilligen Arbeitsdienstlagern, die, wenn sie recht geleitet waren, den günstigsten Einfluß auf die jungen Leute ausübten. Im Dritten Reich ist dann der Arbeitsdienst pflichtmäßig eingeführt worden, und Burschen und Mädchen stehen unter seinem namentlich auch sozial wohltätigen Einfluß. Der Kirchenchor feierte sein vierzigjähriges Jubiläum. Neben ihm haben sich zwei Singkreise gebildet. Der eine, der auch auswärtige Mitglieder hat, ließ sich zuweilen in der Gartenstadtkirche hören. Hier hat aber Stadtpfarrer Botsch, der Dezember 1933 an die Stelle des alten Pfarrverwesers trat, sich einen eigenen Kirchenchor in kurzer Zeit herangeschult. Der andere Singkreis besteht aus Mitgliedern der Jugendvereine und tritt regelmäßig bei der Adventsjugendfeier hervor.

Mit dem Jahr 1933 kam die nationalsozialistische Revolution. Reichspräsident Hindenburg übergab dem Reichskanzler Hitler die Macht; dieser richtete das Dritte Reich auf, und damit trat eine über alles sich erstreckende Änderung der Verhältnisse ein. Das Dritte ist ein Einheits-staat, regiert von Statthaltern, die vom Führer ernannt sind und geleitet werden. Die evangelische Kirche hat sich zu einer einheitlichen evangelischen Reichskirche zusammengeschlossen. Dabei ist alles noch im Werden, in der Entwicklung, auch wo Großes erreicht ist, wie in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, ist der Kampf nicht beendet. Mitten im Gang der Entwicklung kann Geschichte, Bericht über Geschehenes nicht mehr geschrieben werden.
Es sei mir zum Schluß eine Bemerkung gestattet. Ich bin mir bewußt der Mangelhaftigkeit dieser Geschichte, die am Mangel eingehenderer Studien vielfach leider und überhaupt mehr eine Chronik als eine Geschichte ist. Namentlich aber ist die ziemlich einseitig kirchlich orientiert. Aber ich habe es eben nicht anders zustande gebracht und den mir gewordenen Auftrag erledigt, so gut ich konnte. Ich hoffe aber doch, meiner lieben Gemeinde damit noch einmal einen Dienst getan zu haben.
Gefallennen