[pag204] Im Jahr 1900 wurde nun von den bürgerlichen
Kollegien der Beschluß gefaßt, die Pläne Fiechtners
betreffend die Neckarkorrektion durchzuführen. Das Neckarbett
wurde erweitert, die Schutzdämme entsprechend erhöht, der
rechtsseitige mit seiner Birkeneinfassung bildete einen reizenden Spazierweg,
doppelt wertvoll bei der Armut des Orts an Spazierwegen. An der Brücke
wurde an Stelle des Zeilenwehrs mit Steindamm ein Schützenwehr
mit beweglichen Fallen oder Schützen angebracht. Von der Brücke
ab wurde ein Kanal gegraben, der dem neuzubauenden Elektrizitätswerk
die Wasserkraft zuführen sollte. In diesem befanden sich vier
Wasserturbinen, die im Durchschnitt etwa 500 Pferdekräfte lieferten,
und zwei Dampfmaschinen für je 200 Pferdekräfte, die als
Reserve dienten, wenn die Wasserkraft versagte. An Stelle der Ludmannschen
Wassermühle wurde eine ganz mit Elektrizität getriebene Mühle
gebaut. So bekam der Ort immer mehr ein ganz anderes, städtischeres
Aussehen. Schmerzlich war den Untertürkheimern der Verlust der
Neckarlust mit dem berühmten Wellenbad. Im Jahr 1900 begann die
Kanalisation der Straßen und die Herstellung von Gehwegen, mit
der Cannstatter Straße beginnend. Am meisten veränderte
sich aber das Ortsbild im südlichen Teil. Der Gögelbach wurde
bis zum Gairenwald überwölbt, und der dadurch entstandenen
Bachstraße entlang wurde ein Gemeindehaus gebaut, das die Arbeitsschule
nebst Wohnung einer Lehrerin, dann unten Wasch-, Brenn- und Backküche
und das Eichamt aufnahm. Weiter oben entstand auf beiden Seiten eine
Kelter, die für beinahe 700 Geschirre Platz hat und mit allen
neuzeitlichen Einrichtungen versehen ist. Der untere linkseitige Teil
ist unterkellert. Hier hat die Weingärtnergesellschaft eine lange
Reihe stattlicher Fässer liegen. Die Fortsetzung der Bachstraße,
die Friedhofstraße, führt zu dem in einzig schöner,
einsamer Stille gelegenen Friedhof, auf den die Kapelle des Rotenbergs
herabschaut. Unter manchen Anfechtungen hat Fiechtner diesen Platz
durchgesetzt.
Im Dezember 1900 wurde auf Antrag Pfarrer Baurs ein
Gesuch an die bürgerlichen Kollegien gerichtet um Anschaffung
einer neuen Turmuhr. Er sollte sie aber nicht mehr erleben. Ende des
Jahres ist er unerwartet schnell gestorben, und der Dienst wurde wieder
bis September 1901 von zwei Unständigen, Löhrl und Metzger,
versehen. Die Anschaffung der Turmuhr wurde dann schon im Januar beschlossen.
Die bürgerlichen Kollegien sicherten einen Beitrag zu, und dem
Turmuhrenmacher Ph. Hörz wurde die Lieferung einer elektrisch
betriebenen Uhr, die sich selbst aufzieht, übertragen. Zur Bezahlung
mußte eine Schuld von 1500 Mark aufgenommen werden. Im September
1901 ist dann Pfarrer Seybold aufgezogen. Er wurde auf dem Bahnhof
in Fellbach abgeholt. Vor seinem Aufzug wurden einige Lebensbäume
und[pag205] eine Akazie, die zwischen Kirche und Pfarrhaus standen,
als unschön und zwecklos abgehauen. Auf der Terrasse hatte Pfarrer
Baur mit Tuffsteinen eine Anpflanzung einrichten lassen, auch ein Gartenhäuschen
gebaut. Der Kirchengemeinderat übernahm aber nur die Herstellung
des Zaunes. Der Terrasse entlang hat dann Pfarrer Seybold später
mehrere kanadische Pappeln setzen lassen, von denen die eine, die stehen
gelassen wurde, jetzt die Kirche beschattet. Bei Pfarrer Seybolds Amtsführung
zeigte es sich immer wieder, daß er, wie er selbst sagte, mit
einem Tropfen juristischen Öls gesalbt war, freilich auch von
Jahr zu Jahr mehr, daß er ein leidender Mann war. Er führte
eine Bezirkseinteilung ein; von der Friedrichsstraße abwärts
sollte des Vikars Bezirk sein. Doch mußte er später selbst
feststellen, daß alle Gemeindeglieder Anspruch an den Pfarrer
haben. Am 24. November 1901 hatte er gleich die Einweihung des neu
erbauten Jünglingsvereinshauses an der Bachstraße mitzufeiern.
Zu diesem Bau trug Christian Warth (Christianvetter) wesentlich bei.
In ihm hat der Christliche Verein Junger Männer seine Heimat gefunden;
er hat aber auch sonst noch allen möglichen Veranstaltungen in
seinem großen und im kleinen Saal eine Stätte geboten.
Infolge der Ablösung der Stolgebühren, durch
die endlich das Wort „Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebt
es auch wieder" einigermaßen wahr geworden ist, hatte die Gemeinde
jährlich an die kirchliche Besoldungskasse 1025 Mark abzuführen.
Nun hatte sich bisher in der Kirchenpflegerechnung fast immer ein größerer
oder kleinerer Überschuß ergeben von 56 bis 428 Mark. Aber
diese Summe konnte nur durch eine Kirchensteuer aufgebracht werden,
und so mußte der Kirchengemeinderat in den sauren Apfel beißen
und vom 1. April 1902 an eine Kirchensteuer im Betrag von 8 v. H- der
Staatssteuer erheben, zugleich um die Mittel zur Förderung des
Kirchenbauwesens zu gewinnen. Nun konnte man ruhig an die Erbauung
einer geräumigen Sakristei an Stelle der kleinen alten geben.
Der Bau wurde dem Ortsbaumeister Lusser übertragen, den Fiechtner
seinerzeit von Trossingen hatte kommen lassen und der fast alle die
Gemeindebauten entworfen und ausgeführt hat. Am 26. Oktober 1902
wurde die Gemeinde aufgefordert, nach dem Gottesdienst sich die neue
Sakristei zu besehen. Der hier wohnende Pfarrer Wetzel stiftete die
elektrische Beleuchtung der Kirche, der Strom sollte umsonst geliefert
werden. Auch die Orgel bekam elektrischen Antrieb. Zum Schmuck der
Kirche wurde eine rote und eine schwarze Altar- und Kanzelbekleidung
gestickt, und die Arbeitslehrerinnen
[pag206]
fügten noch eine Schutzdecke dazu. Auf
den Altar kam eine neugestiftete Altarbibel, auch wurde beschlossen,
künftig beim Ernte- und Herbstdankfest (und dann auch bei der
Erntebetstunde) den Altar mit den Erzeugnissen der Gärten und
Weinberge zu schmücken.
Im Jahr 1903 mußten vier weitere Schulstellen
begründet werden. Und weil jetzt auch die Wilhelmsschule nicht
mehr genug Platz hatte, wurde im Hof, längs der Gartenstraße,
eine Schulbaracke aufgestellt. Das Jahr vorher: war eine einklassige
katholische Konfessionsschule eingerichtet worden, die dann in der
früheren Kinderschule untergebracht wurde. 1905 wurde die Schule
zweiklassig. Die katholische Gemeinde war in den letzten Jahren auf
etwa 300 Seelen angewachsen, und so unternahm sie einen Kirchbau an
der Panorama=, jetzt Kappelbergstraße in beherrschender Lage.
Der schöne romanische Bau wurde am 17. November 1903 von Bischof
Keppler geweiht. Pfarrer wurde der Expositurvikar Kurz, auf den Stadtpfarrer
Keller folgte, als jener nach Cannstatt versetzt wurde. Die Apotheke übernahm
1902 Samuel Zluhan von Lonsee.
Schon im Jahr 1902 wurde ein Vertrag wegen Eingemeindung
mit Stuttgart abgeschlossen, der auf 1. Oktober 1903 in Vollzug kommen
sollte. Das veransagte Pfarrer Seybold, die kirchliche Eingemeindung
und Trennung vom Dekanat Cannstatt anzuregen und um die Errichtung
einer zweiten Pfarrstelle, von der schon früher die Rede gewesen
war, einzukommen. Im Jahr 1903 feierte die Freiwillige Feuerwehr, die
mit der dazugehörigen Sanitätskolonne etwa 220 Mann zählte,
ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Für ihre Übungszwecke
war an die Turnballe ein Steigerturm angebaut worden, und zur Unterbringung
der immer zahlreicher werdenden Geräte wurde die „neue Kelter" an
der Ecke der Roten- und Karlsstraße in ein Feuerwehrmagazin umgebaut.
Bei den Verhandlungen über die Eingemeindung hat sich Pfarrer
Seybold dadurch ein großes Verdienst erworben, daß er nicht
ruhte, bis dem Ort ein eigenes Standes- und Grundbuchamt gelassen wurde.
Ein alter Wunsch der Gemeinde, für den schon
eine ganze Reihe von Stiftungen gemacht worden waren, ging auf Erhöhung
des Kirchturmes und Herstellung einer Galerie für das Choralblasen
des Posaunenchors. Auf die Bitte des Kirchengemeinderats hin erschien
am 11. April 1905 eine Kommission des Konsistoriums und Christlichen
Kunstvereins Oberkonsistorialrat Merz erklärte die Kirche im Innern
für sauber und heimelig. Die nächste Aufgabe sei die Schaffung
eines Bauplatzes für eine zweite Kirche und ein zweites Pfarrhaus.
Er hob den eigenartigen Reiz des Kirchturms hervor. Als dann später
festgestellt wurde, daß eine Erhöhung des Turms auf mindestens
30 000 Mark käme, da die Fundamente wesentlich verstärkt
werden müßten, wurde dieser Wunsch zurückgestellt und
aller Nachdruck auf Mehrung des Kirch- und Pfarrhausbaufonds gelegt,
zu dem dann das Konsistorium 1000 Mark aus Interkalargefällen
verwilligte. In der Folge wurde aber ein Pfarr- und Gemeindehaus ins
Auge gefaßt, da die Errichtung einer zweiten Pfarrstelle von
der Herstellung einer zweiten gottesdienstlichen Stätte und einer
Pfarrwohnung abhängig gemacht wurde. An die Stadtgemeinde wurde
immer wieder die Bitte um Überlassung des Bauplatzes im Äckerle
gerichtet, den der Eingemeindungsvertrag nicht erlangte, sondern nur
die Zusicherung des „Wohlwollens" bei der Werbung eines Bauplatzes.
Als der Baufonds soweit angewachsen war, daß man an den Bau
denken konnte, machten Krieg und Inflation allem ein Ende.
Am 1. Oktober 1904 wurde das fünfundzwanzigjährige
Amtsjubiläum Schultheiß Fiechtners festlich begangen und
ihm das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde verliehen: Ein Ehrenbürger
soll er uns sein! Noch lange möge er leben, gesund seines Werkes
sich freun!
Inzwischen ging sein Werk weiter. 1904 wurde der Kelterbau,
1905 die neue Kinderschule fertig. In diesem Jahr konnte auch der Liederkranz
sein eigenes Heim einweihen. Die Sängerhalle ist ein Versammlungsraum
geworden, der nicht bloß dem Verein, der ihn erbaut hat, sondern
allen möglichen anderen Vereinen, politischen und anderen Versammlungen,
nicht am wenigsten auch den Gemeindeabenden der evangelischen Kirchengemeinde
eine unschätzbare Gelegenheit bietet. Am 24. März 1905 wurde
die Eingemeindung Untertürkheims gefeiert. Drei Mitglieder der
bürgerlichen Kollegien hatten dagegen gestimmt. Auch diese für
Untertürkheim[pag207] So entscheidende Angelegenheit war wesentlich
ein Werk Schultheiß Fiechtners. Er wurde nun pensioniert, während
andere Gemeindebeamte von der Stadt übernommen wurden. Ortsbaumeister
Lusser wurde mit 30 000 Mark abgefunden. Mit seiner Pensionierung schied
Fiechtner auch aus dem Kirchengemeinderat aus, und Pfarrer Seybold
redete in der Sitzung "bewegten Herzens" davon, daß seine "warme,
innere Teilnahme an dem Wohl und Wehe der Kirchengemeinde überhaupt
nicht ersetzt werden könne". Am 24. Dezember 1905 wurde der neue
Friedhof eingeweiht. Nachdem Pfarrer Seybold wiederholt vergeblich
darum petitioniert hatte, wurde dann doch von der Stadt ein Leichenhaus
mit Versammlungsraum hergestellt, aber gemäß der freidenkerischen
Mehrheit des damaligen Stuttgarter Gemeinderats ohne irgendwelche christlichen
Embleme, wie es auch nicht gestattet wurde, einen Bibelspruch über
dem Eingangsportal anzubringen, und doch hat dann dieser Bau ein unschätzbares
Hilfsmittel zu unseren schönen Frühgottesdiensten auf dem
Friedhof werden müssen. Es ist lange angestanden, bis die erste
Beerdigung auf dem neuen Friedhof stattfand, und so war Stadtpfarrer
Seybold unter den ersten, als er im September 1906 seinem schweren Übel
erlag.
An einer an sich geringfügigen Sache zeigte sich
gleich im Anfang des Jahres 1906 die andere Stellung der Kirchengemeinde
zur bürgerlichen, da der Kirchengemeinderat "mit Bedauern zur
Kenntnis nehmen" mußte, daß von jetzt an die Kirchenpflege
10 Mark Wasserzins zahlen müsse. Einschneidender war, daß Ratschreiber
Hoffmann, der bisher die Rechnungsstellung und Kirchensteuerumlage
treulich besorgt hatte, mit seinem Abgang nach Stuttgart diesen Auftrag
an Ratschreiber Grözinger übergeben mußte, dem aber
die Arbeit nur auf kurze Zeit gestattet wurde. So mußte der neue
Pfarrer die Rechnungsstellung und der Stadtvikar die Anlegung des Steuerregisters übernehmen.
Grözingers Nachfolger wurde Ratschreiber Fremd, der mit seiner
ruhigen, freundlichen Art ein Vater der Rat- und Hilfesuchenden wurde
durch eine lange Reihe von Jahren, bis er im Jahr 1933 das dornenreiche
Amt mit einem ruhigeren in Cannstatt vertauschte.
Bis nach der Konfirmation 1907 hatten Stadtpfarrverweser
Döring und Stadtvikar Strebel das Amt zu versehen. Anfang Juni
zog Stadtpfarrer Johannes Lechler, von Laupheim kommend, auf. Er wurde
vom Kirchengemeinderat, Lehrerkollegium und der älteren Jugend
festlich empfangen. Er war ja dem Namen nach noch Ortsschulinspektor,
der Ortsschulbehörde in Stuttgart aber gehörte er nicht an,
und es war eine Wohltat, als 1910 diese Halbheit aufhörte und
Oberlehrer Staiger zum Vorstand der Schule ernannt wurde. Auf Wunsch
der Leiterinnen Fräulein Paule und Wilhelm übernahm der
Stadtpfarrer die Vorstandschaft des Jungfrauenvereins und hielt die
sonntäglichen Bibelstunden und einen Jungfrauenmissionsverein
an einem Abend der Woche. Im folgenden Jahr kam es auch so weit, daß er
auf Wunsch der bisherigen Leiter die Kindersonntagsschule übernahm,
die bisher als Kinderstunde im Vereinshaus gehalten worden war. Jetzt
wurde sie in die Kirche verlegt und mit Hilfe von mehr als zwanzig
Mitgliedern des Jünglingvereins am Sonntag nach dem Hauptgottesdienst
als Kindergottesdienst gehalten. Die Vorbereitung dazu fand in der
Sakristei statt. Seim Sonntagsgottesdienst betraf er die Kanzel während
des Vorspiels und sprach nach dem Schlußvers den Segen, um so
am ganzen Gottesdienst der Gemeinde als das mit der Leitung beauftragte
Mitglied teilzunehmen. Im Kirchenjahr 1907/08 predigte er im Einverständnis
mit dem Kirchengemeinderat über freie Texte. Es wurde jedesmal
ein Abschnitt aus dem Alten und Neuen Testament gelesen. Sei den Feiertagsgottesdiensten
wurde im Jahr 1908 mit Pfarrer Reischle von Hedelfingen abgemacht,
daß abwechselnd der eine oder der andere an beiden Orten predigte.
Im November des Jahres 1907 wurde eine Hauskollekte
für den Kirchbau veranstaltet, bei der die acht Kirchengemeinderäte
mit je einem Begleiter die ihnen zugeteilten Bezirke durchgingen. Der
Ertrag war 3393 Mark. Eine sehr erfreuliche ungesuchte Gabe war die
Stiftung einer silbernen Hostienbüchse "zur Erinnerung an das
Segensjahr 1907" von Christian Warth und seiner Frau. Im Januar 1908
richteten 34 Läutbuben durch Mesner Lämmle die Bitte an den
Kirchengemeinderat, es möchte ihnen eine Vergütung gereicht
werden, weil sie den [pag208]
ganzen
Monat Dezember wohl in die Kirche läuten
mußten, aber weder von einer Beerdigung noch von einer Hochzeit
eine Einnahme hatten. Die Bitte wurde aber "um des Vorgangs willen" abgeschlagen.
Als Anfang 1908 Lehrer Hengstberger die Vorstandschaft des Kirchenchors
niederlegte, glaubte er, der Stadtpfarrer sei der gegebene Vorstand.
Die Leitung übernahm Lehrer Wiedmann, aber die Wahl des Vorstands
sollte nach Beschluß des Kirchengemeinderats dem Kirchenchor überlassen
werden, nur bei der Wahl des von ihm besoldeten Dirigenten wollte er
mitwirken. Als Vorstand wurde dann Lehrer Löffler gewählt.
In diesen Jahren waren die Gemüter von der Eingemeindung
her noch sehr erregt. Die einen rühmten das Erreichte, die anderen
redeten mit Wehmut von dem alten Untertürkheim mit seinen schönen,
jetzt überbauten Gärten und seinem gemütlichen Leben.
Sei allen eingesessenen Untertürkheimern aber klang eine Saite
hell an, wenn es sich darum handelte, dem geliebten Heimatort auch
als Stadtteil von Groß=Stuttgart seine Eigenart möglichst
zu erhalten. Daneben ließ man sich's gerne gefallen, daß die
Straßen und Wege allmählich gepflastert wurden. Für
Feldwege pflegte die Gemeinde 4000 Mark im Jahr auszuwerfen, die Stadt
aber 40 000. Zuerst wurde die vielbefahrene Cannstatter Straße
durch Pflasterung von Staub und Schmutz befreit. Bei der Langen Straße
stand es ziemlich lange an. Als aber am 30. November 1909 der altehrwürdige,
im sechsundneunzigsten Lebensjahr stehende Gemeindepfleger Jakob Warth
beerdigt wurde und die Stuttgarter Herren durch den tiefen Straßenkot
zum Friedhof wandeln mußten, hoffte man, das werde mehr wirken
als Eingaben. Die Straße ist dann auch bald gepflastert worden.
Zur Pflasterung kam das Legen der Gasleitung und zum elektrischen Licht,
das man schon hatte, die Bequemlichkeit des Gaskochens. Für das
Schulwesen der beiden Vororte Untertürkheim und Wangen sorgte
die Stadt 1908 durch die Erbauung der Lindenschule als einer Sammelschule,
die auch die katholische Schule aufnahm. Im Lauf der Zeit wurde noch
ein Flügel angebaut, um Platz zu schaffen für eine sechsklassige
Realschule, ebenso wurde eine eigene Turnhalle hinzugefügt. Ihren
Namen hat die Lindenschule von der alten Zigeunerlinde, bei der einst
der Sammelplatz, wohl auch der Kampfplatz der Untertürkheimer
und Wangener Jugend gewesen war. Im vorigen Jahrhundert war sie noch
so hoch daß man mit zwei Feuerleitern die Misteln, die zahlreich
darauf wucherten, kaum erreichen konnte. Im 20. Jahrhundert starb ein
Ast nach dem andern ab. Am 15. Juni 1915 wurde sie gefällt und
eine junge Linde gesetzt. Im April 1908 erlag Dr. Eugen Schimpf seinem
unheilbaren Leiden. Er war 1891 der Nachfolger von Dr. Vöttiner
geworden, der neben dem 1877 [pag209] verstorbenen Wundarzt Held jahrzehntelang
die Untertürkheimer ärztlich versorgt hatte. Dr. Schimpf
war ein Arzt, der das volle Vertrauen der Untertürkheimer besaß,
und dessen Scheiden schmerzlich betrauert wurde. Sein Nachfolger wurde
ein hiesiger Bürgersohn Dr. Emil Maier. Es hat sich aber seitdem
ein Arzt um den andern hier niedergelassen, so daß wir jetzt
neben den Zahnärzten und -technikern fünf Ärzte am Ort
haben, nämlich Dr. Feldmann, Dr. Hengstberger, Dr. Lumpp und Dr.
Sedlaczeck neben dem obengenannten.
m Jahr 1908 stellte es sich heraus, daß am Türmchen
des Kirchturms, trotzdem daß 1905 mit einem Aufwand von 1500
Mark "das Nötigste" verbessert worden war, eine gründliche
Wiederherstellung unumgänglich nötig sei, da der obere Teil
sich als morsch erwies. Es wurde dann von der Erhöhung des Turmes
ganz abgesehen und einstimmig beschlossen, das Türmchen genau
in seiner bisherigen Form wiederherzustellen und mit Kupfer zu decken.
Dabei bat auch der alte Turmhahn einem neuen weichen müssen. Im
Jahr 1909 wurde der Saal der alten Kinderschule der Stadt um ein billiges
abgemietet und als Konfirmandensaal eingerichtet, mit zwei Banktischen,
einer Anzahl Bänken und einem stattlichen Katheder versehen. Der
Jungfrauenverein durfte hier seine Wohnung aufschlagen und hat den
Saal mit einem Harmonium und einem Bibliothekkasten ausgestattet und
die Wände mit Bildern geschmückt. Auch der Kirchenchor fand
hier seine Übungsstätte und hat es im Lauf der Jahre von
einem mangelhaften Klavier zu einem tadellosen Flügel gebracht.
Der Saal wurde mit der Zeit die Stätte der Winterbibelstunde und
von 1911 an des neubegonnenen Frauenmissionsvereins. Ebenso wurde er
zu Nebengottesdiensten benutzt und zu allen möglichen Versammlungen
und
Veranstaltungen. Er erwies sich als eine Lebensnotwendigkeit der
Gemeinde. Die Wohnung im Dachstock war
[pag210]
für die Schwestern gemietet worden,
deren Zahl 1909 auf vier vermehrt wurde. Als 1907 der neue Pfarrer
in einer Generalversammlung des Krankenpflegevereins zum Vorstand gewählt
werden sollte, Stellte es sich heraus, daß außer dem Ausschuß nur
noch sein Mesner da war, von dem er also einstimmig gewählt worden
ist. Später, als Dr. Maier bei der Generalversammlung einen Vortrag
zu halten anfing, reichte der Konfirmandensaal nicht mehr, und der
Saal der "Alten Krone" wurde voll. Zum Rechner des Vereins wurde,
nachdem Ratschreiber Grözinger 1910 nach Stuttgart versetzt worden
war, Lehrer Bofinger gewählt, der bis heute dem Verein und den
Schwestern aufs treuste und selbstloseste gedient hat.
Im politischen Leben haben sich in jenen Jahren
schon die ersten Anzeichen des kommenden Kriegs bemerklich gemacht.
Die Marokkofrage führte nahe daran, aber man glaubte damals noch davon reden zu
dürfen, welcher Krieg populärer sei, der gegen Frankreich
oder gegen England. Der belgische Gesandte Greindl aber hat damals
erklärt, daß der Weltfrieden nie ernstlicher bedroht gewesen
sei, als seit der König Eduard von England ihn zu festigen trachte.
Im Herbst 1908 gestattete Wilhelm II., ohne von seinem Reichskanzler
Bülow abgemahnt zu werden, die Veröffentlichung einer Unterredung
mit einem englischen Zeitungsmann, in der er in seiner unvorsichtigen
Weise seine freundschaftliche Gesinnung gegen England aussprach. Im
Reichstag wurde dann an der persönlichen Politik des Kaisers die
schärfste Kritik geübt, und er versprach, "die Stetigkeit
der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen
Verantwortlichkeiten zu sichern". Der Kronprinz hatte den Eindruck,
daß der Kaiser von diesem Schlag sich nie wieder ganz erholt
habe. Es war dasselbe Jahr, in dem der erste Zeppelin verbrannt ist,
aber dieses Unglück ward für den edlen Grafen zum Segen.
Das deutsche Volk spendete 6 Millionen zum Wiederaufbau. 1909 trat
Bethmann=Hollweg an Bülows Stelle, nachdem die Finanzreform
beschlossen und die Erbschaftssteuer mit 194 gegen 186 Stimmen verworfen
war.
Ende Januar 1909 gab der Kirchenchor ein Konzert zum
Besten des Kirchbaufonds und im Sommer Stadtvikar Werner eines, das
er mit seinem wohltuenden Gesang verschönte. Er war im August
1908 auf Strebel gefolgt und der erste und letzte verheiratete Stadtvikar,
kam dann auch schon im August 1909 als Pfarrer nach Berneck. Stadtvikar
Schairer wurde auf Gründonnerstag 1910 abberufen, und der Stadtpfarrer
konnte nun sehen, wie er bis Juli allein fertig wurde. Im Jahr 1910
hatte die Gemeinde vier Vikare. Stadtvikar Knapp kam aus Gesundheitsgründen
nach zwei Monaten wieder weg, und Stadtvikar Kemmler wurde vom 2. bis
16. Oktober von Stadtvikar Wolf vertreten. Auf Weihnachten 1909 erschien
die erste Untertürkheimer Chronik, die ein Gemeindeblatt nicht
ersetzte, aber den Vorzug hat, daß sie unentgeltlich an alle
Gemeindeglieder ausgeteilt wird und so ein Gegenstück zu dem unwillkommenen
Kirchensteuerzettel bildet. Im Jahr 1911 wurde die Kirche innen erneuert.
Die Gottesdienste, auch der Kindergottesdienst, fanden auf dem Friedhof
statt. Das trug dazu bei, der Gemeinde die Frühgottesdienste auf
dem Friedhof gewohnt und lieb zu machen. Es war das trockene Jahr,
in dem es vom 2. Juli bis zum 14. September nur am Mittag nach der
Erntebetstunde kräftiger geregnet hat. Wenn bei den Bohnen die
Blätter, auch wenn man goß, am Stock verdorrten, so war
es dem Weinstock wohl bei der guten Wärme. Der Ertrag der Weinberge
war zwar nicht groß, aber der Preis so gut, daß er von
300 bis 759 Mark für den Eimer betrug. Die Herbste dieser Vorkriegsjahre
werden durch die Dankfestopfer für die Armen der Gemeinde gekennzeichnet:
1908, wo der im Oktober einfallende Frost nichts mehr schadete, waren
es 222 Mark, 1909 aber noch 168 und 1910, wo manche in einem Kübele
den Ertrag eines Weinbergs heimtragen konnten, nur noch 124 Mark. Dagegen
1911 wieder 203. Das Jahr 1912 brachte es auf 169 Mark, 1913 nur noch
auf 108. Im Jahr 1912 hat schon im Winter der Frost Schaden getan,
dann kamen Spätfröste, als der Wein in der Wolle war, und
im Herbst sind die Trauben, wenn sie noch nicht ganz reif waren, jämmerlich
erfroren. Dagegen gab es reichlich Obst. 1913 aber war jener Konfirmationssonntag,
der 13. April, da man bei einer wunderschönen Winterlandschaft
aufwachte. Alles war mit Schnee bedeckt und sechs Grad Kälte!
Es war ein Wunder, daß doch nur einzelne der blühenden Bäume
ganz um [pag211] gestanden sind, aber Wein- und Obstertrag war
dahin. Die Kelter wurde im Herbst gar nicht geöffnet.
Die Geschäfte gingen gut. Die drohende Aussperrung
der Metallarbeiter ganz Deutschlands, die eine halbe Million Arbeiter
getroffen hätte, wurde 1910 noch glücklich abgewendet, ein
Streik bei Daimler 1911 nach wenig Tagen beigelegt. 1913 wurden die
Arbeiter der Bosch'schen Fabrik ausgesperrt, und in einer Reihe von
Abteilungen der Daimler=Motorenfabrik wurde Arbeitsverkürzung
vorgenommen, ein Zeichen der zunehmenden Geschäftsstockung. Der
Stadtpfarrer hatte von Anfang an versucht, durch Vorträge das
Interesse der kirchenfremden Arbeiter an religiösen Fragen zu
wecken. Aber sobald es erwachen wollte, wurde von der Parteileitung
abgepfiffen. Als er dann 1912 einen Vortrag über Sozialdemokratie
und Christentum hielt, schienen viele Zuhörer gar nicht ablehnend,
umso mehr war es die Leitung. So blieb ihm nur noch die Möglichkeit,
bei Gelegenheit von politischen Versammlungen, bei denen religiöse
Fragen zur Sprache kamen, oder bei Austrittsversammlungen ein Zeugnis
für den Christenglauben abzulegen. Schlecht behandelt wurde er
nie, im Gegenteil war das Echo manchmal ein ganz überraschendes.
Eine Zeugin des Christenglaubens ist im Jahr 1911
in der siebenundvierzigjährigen Helene Schönberger Von siebenunddreißigjährigem,
seit ihrer Schulzeit währenden Leiden erlöst worden. Sie
hat in ihrem Dachstüblein wirklich von Gott und guten Leuten gelebt,
aber von dem wenigen, was sie als Nähterin verdiente, doch noch
den Zehnten für die Mission gegeben und ist mit ihrem fröhlichen
und getrosten Glauben vielen zum Segen geworden. Am 6. November wurde
durch ein nächtliches Erdbeben mehr Schrecken als Schaden angerichtet.
Der Pfarrer sah zum Fenster hinaus nach dem Lastauto, das, wie er meinte,
das Haus zittern gemacht habe. Im Jahr 1912 wurde mit der Außenreparatur
der Kirche begonnen, bei der Wiederherstellung der Giebelseite wurden
zwei Kellereingänge aufgedeckt. Man fand aber nichts als Erde
und viel Totengebeine. Die Eingänge wurden wieder zugemauert.
Im Frühjahr 1914 wurde aus Anlaß der Kanalisation unmittelbar
neben der Südostecke der Kirche ein römischer Töpferofen
und eine mit Scherben gefüllte Abfallgrube aufgegraben. Das Wertvolle
kam in die Altertumssammlung. Die Außenrenovation der Kirche
wurde Stück für Stück fortgesetzt. Die Quadersteine
hat man nicht mehr wie früher überstrichen, sondern nachgearbeitet
und einzelne ersetzt. Im Jahr 1914 kam man bis zum Turm. Dann wurde
die Arbeit durch Krieg und Nachkriegszeit unterbrochen und erst im
Jahr 1925 die Chorseite vollendet und der [pag212] Turm in seinem ursprünglichen
Aussehen wiederhergestellt. Mit dieser Arbeit hing dann eine Verschönerung
der Umgebung der Kirche zusammen. Zuerst wurden Gebüschanlagen
gegen den "Hirsch" mit Steineinfassung, 1913 auch auf der Südseite
der Kirche angepflanzt.
Im Jahr 1913 begann an der Grenze der Ortsmarkung
gegen Fellbach zu der Bau der Gartenstadt, ausgeführt von der
Baugenossenschaft Luginsland durch Architekt Wacker u. a., Einfamilienhäuser,
zwei oder drei zusammengebaut, von Gärten umgeben. Die Vollendung
der dritten Serie fiel schon in den Krieg, und es war ein schlimmes
Einziehen und Wohnen in den Häusern, denen womöglich noch
die Haustüre fehlte. Nach dem Krieg ist dann, von 1920 an, der
Bau mit neuem Eifer aufgenommen worden. Zur Erwerbung eines stattlichen
Areals haben die Daimler=Motorengesellschaft und Robert Bosch beigetragen,
während die bürgerlichen Kollegien sich ablehnend verhielten.
(Nach dem Krieg hat die Stadtgemeinde auch geholfen.) Das nicht überbaute
Land wurde verpachtet als Gemüseland, auch ein Turn- und Sportplatz
ausgesondert, mit einer Turnhallenbaracke, die 1933 mitsamt dem Sportplatz überbaut
worden ist. Die Baugenossenschaft hat das Vorkaufsrecht, Spekulation
darf nicht getrieben werden. Mit ihren über 300 Einfamilienhäusern
und 4 Miethäusern mit 35 Wohnungen kann man es schon eine Stadt
heißen. Jedenfalls ist die Gartenstadt mit ihren blumenreichen
Vorgärten, namentlich wenn die Rosen blühen, aber auch im
ersten Frühling wie im Sommer und Herbst ein wahres Schmuckkästchen,
eine Sehenswürdigkeit Untertürkheims.
Im Jahre 1913 hat die Neuapostolische Gemeinschaft
einen förmlichen Einbruch in die evangelische Gemeinde gemacht.
1908 hatten mit der Familie Brehm die Austritte zu den Neuapostolischen
begonnen. Dann wurde in steigendem Maße eine ungeheure Propaganda
entfaltet. Um seine Gemeinde über diese neu aufkommende Sekte
aufzuklären, hielt der Stadtpfarrer einen Vortrag, bei dem man
vom Vereinshaus in die Kirche hinübergeben mußte. Der Vortrag
erschien im Stuttgarter Gemeindeblatt, und es wurde davon ein Sonderdruck
hergestellt. Nach einem kurzen Rückschlag nach dem Krieg haben
sich die Neuapostolischen so vermehrt, daß sie eine eigene Kirche
an der alten Fellbacher Steige bauen konnten, die ein glänzendes
Zeugnis ist für die Opferwilligkeit und den Zusammenhalt der neuapostolischen
Gemeinden des Landes. Im Jünglings- und Männerverein, dem
Christlichen Verein junger Männer, der 1911 sein dreißigstes
Jahresfest gefeiert hatte, wurde 1912 eine Pfadfinderabteilung gebildet,
die schon durch ihre äußere Erscheinung, die schmucke Uniform,
noch mehr durch ihr munteres Treiben und vor allem durch ihren Grundsatz "Allzeit
bereit" (zum Dienst für andere) Freude bereitete. Gerade noch
vor dem Krieg konnte der Jünglingsverein seinen Garten einweihen,
in dem eine Unterkunftshütte mit Aussichtstürmlein aufgerichtet
wurde. Der Garten ist dann nach dem Krieg auch dem Ferienheim eingeräumt
worden. Um für 200 und mehr Kinder Platz zu schaffen, wurde an
die Unterkunftshütte ein stattlicher Saal angebaut, der schon
zu allerhand Zwecken, vor allem zu den von Stadtpfarrer Haap eingeführten
Sommerfesten des Gemeindevereins, benutzt worden ist. Im Gairenwald
draußen hat sich auch der Untertürkheimer Turnerbund und
die katholische Gemeinde stattliche Gärten erworben.
Im Frühjahr 1914 erschien ein Artikel eines russischen
Staatsrats, in dem es klipp und klar ausgesprochen war, wenn Deutschland
in der Meerengenfrage Rußland im Wege stehe, so gebe es eben
Krieg. Frankreich hatte das dritte Dienstjahr eingeführt und seinem
russischen Bundesgenossen Milliarden geliehen, damit er seine strategischen
Bahnen ausbaue. Man wollte es nicht glauben, daß es Menschen
gebe, die so gewissenlos seien, das Unglück eines Weltkriegs über
Europa zu bringen. Aber der Gott Mammon, der Herr der Welt, befahl
den Krieg. Die Engländer, voll Neids auf den industriellen Aufschwung
Deutschlands, glaubten, wenn Deutschland niedergeworfen werde, werde
jeder Engländer um 20 000 Pfund reicher sein. Aber auch ein deutscher
Industrieller, Kraftfahroffizier, sagte nach dem Fall Lüttichs: "Jetzt
kann man reich werden." Ihren Sieg über Deutschland haben unsere
Feinde der Angst Amerikas um seine Milliarden zu danken. Als Österreich
an Serbien den Krieg erklärte, wußte jedermann, daß das
eben das Vorspiel sei. Und so kam der Tag, an dem ein Leutnant mit
einer Abteilung Soldaten an der Krone aufmarschierte und unter Trommelwirbel
die Erklärung der [pag213] Kriegsbereitschaft verlas. Einer
glaubte, mich auf das Welthistorische dieses Augenblicks aufmerksam
machen zu müssen, aber mir war zuvorderst das Grauen vor dem furchtbaren
Geschick, dem Europa und vor allem unser Vaterland entgegenging. Am
andern Morgen war Frühgottesdienst auf dem Friedhof. Es wurde
die erste Kriegsbetstunde! Doch es gilt, sich über den Krieg möglichst
kurz zu fassen. Jeder Kriegsteilnehmer weiß, wie schwer das ist.
Es ist's auch für die Daheimgebliebenen.
Die erste Zeit bildet für uns eine erhebende
Erinnerung. Was uns ergriff, war ein heiligernstes Gottvertrauen. Gott
ist mit uns, den ohne Grund Überfallenen. Er wird uns helfen gegen
unsere Feinde, die uns vernichten wollen. Das andere war ein wunderbares
Gefühl der Zusammengehörigkeit. Man hat jeden Deutschen mit
ganz anderen Augen an, recht als Bruder und Schwester, als Glieder
eines Volkes, als Kinder des gemeinsamen Vaterlandes, für das,
zum mindesten in dieser ersten Zeit, jeder alles zu geben bereit war.
Endlos sahen wir die Züge durchfahren, die unsere Söhne,
Brüder und Väter ins Feld führten. Untertürkheim
wurde eine Hauptstation, lag es doch an der Umgehungsbahn, deren Wert
jetzt jedermann klar wurde. Auf dem Güterbahnhof wurde eine große
Küche eingerichtet, und Tag und Nacht waren eifrige Frauenhände
bereit, die Durchfahrenden mit Gekochtem und Ungekochtem zu erquicken.
Bald kam dazu eine Verbandstation der Sanitätskolonne. Das Kote
Kreuz unter dem Vorsitz des Reichstagsabgeordneten Keinath organisierte
die Hilfstätigkeit, die sich nun alsbald auch auf die Familien
der Ausmarschierten erstreckte. Eine Kinderkrippe und Kinderküche
wurde eingerichtet. Für die erstere stellte Fabrikant Straus sein
Anwesen zur Verfügung. Dank einer reichen Stiftung der Daimlergesellschaft
konnte dann später dieses Anwesen für die Krippe erworben
werden, 1926 und 1928 wurde es zu seiner jetzigen Vollendung ausgebaut.
Die Kinderküche wurde im Erdgeschoß des Kindergartens untergebracht,
und es stand nicht lange an, da waren es fast 200 Kinder, die hier
ihren Hunger stillen durften. In der Arbeitsschule wurde für die
Soldaten gearbeitet, und der Konfirmandensaal wurde eine Nähstube,
in der dann abends Strickabende veranstaltet wurden. In den ersten
Tagen waren die Kraftfahrer, die alsbald hier ihr Hauptquartier bekamen,
bei den Bürgern einquartiert. Mit der Zeit wurde die Sängerhalle
und der Kindergarten Kaserne. In der Sängerhalle war schon ein
Reservelazarett vorgesehen. Da wurde sie eines Tages wieder ausgeräumt
und die Stätte der vaterländischen Abende, bei denen unter
Vorsitz des Reichstagsabgeordneten Keinath er und die beiden Pfarrer,
die brüderlich beieinandersaßen, der zahlreichen Versammlung
mitteilten, was sie wußten und auf dem Herzen hatten, bis dann
der Saal von den Kraftfahrern besetzt wurde. Im Lokal des "Liederkranzes" wurde
später ein Lesezimmer eingerichtet. In den ersten aufgeregten
Tagen ist man auch hier von der grassierenden Spionen- und Fliegerfurcht
nicht frei gewesen. Einmal wachten wir an heftigem Schießen auf.
Sie hatten den Planeten Mars für das Licht eines feindlichen Flugzeugs
gehalten. Im "Mönchskeller" hatten die Flieger ihr Sammelquartier.
Der Bahnschutz wurde zunächst von bewaffneten Bürgern, dann
von Landsturmleuten versehen. Das Blatt "Durch Kampf zum Sieg" wurde
allwöchentlich in etwa 600 Exemplaren ins Feld geschickt. Ebenso
dann an Weihnachten die "Untertürkheimer Chronik" und Jahr für
Jahr Weihnachtsschachteln, die vom Roten Kreuz aus zusammengestellt
wurden. In der ersten Zeit sind unsere Soldaten draußen mit Eßwaren,
aber auch mit Kleidungsstücken aller Art förmlich überschüttet
worden. Später, als Not und Mangel daheim einkehrte, wurde es
anders. Aber manches hat sich vom Mund abgespart, ja vielleicht Mangel
gelitten, um sein Feldpostschächtele packen zu können. Im
Dezember war noch scherzweise davon die Rede, daß es am Ende
zu Spätzle nicht mehr reichen könnte; aber schon Anfang 1915
wurde es ernst. Da hat man dann den Inhalt der Viktore durchsucht und
in Ostheim unter 100 Pfund 81/2 Pfund Brotreste gefunden. Es wurde
eine Sammlung von Abfall=, vor allem Wollstoffen, bei der die Schulkinder
helfen durften, veranstaltet und hier allein 700 Kilogramm zusammengebracht.
Die Bevölkerung wurde aufgefordert, ihr Gold in Papiergeld umzuwechseln.
Das ergab 36 000 Mark Gold. Später ist dann alles Gold in Schmuck
und sonst gesammelt worden wie einst 1813: Eisen nahm ich für
Gold. Ebenso wurden Kupfer und Messing, überhaupt alle Metallgegenstände
[pag214]
außer Blech und Emaille gesammelt und das schöne
Kupfergeschirr fürs Vaterland geopfert. Damals wurde auch das
Zeichenglöcklein von 1661 hergegeben. Auf dem stand: Omnis spiritus
laudet Dominum (Alles, was Odem hat, lobet den Herrn). M. Ludwig Hetzer,
Pastor; Ludwig Albrecht Schmierer, Praetor; Joann Philipp Maier, Scriba;
Joann Scheef, Vitus Exlin (Ächslin) ludices. Dominus cum suis
(Der Herr ist mit den Seinen). Im Herbst 1915 wurden von den Schulkindern
Eicheln gesammelt zu Futterzwecken, hier 50, in Groß=Stuttgart
1000 Zentner.
Aber nun die Arbeit in Feld, Garten und Weinberg!
Es war etwas Merkwürdiges, wenn man über Feld ging und überall
fleißig, gearbeitet wurde, sah man nur alte Männer und Buben,
vor allem aber Frauen. Den guten, reichlich gewachsenen Wein des Jahres
1915 haben wir Liebfrauenwein genannt. So haben die Daheimbleibenden
sich redlich gemüht für die draußen und an ihrer statt.
Und draußen ging es heiß her. Bei Ilow in Polen sind allein
sechs Untertürkheimer gefallen. Stadtvikar Kemmler kehrte mit
Lungenschuß vom Westen zurück, um in erstaunlich kurzer
Zeit wieder ins Feld zu ziehen. Im Osten hat ihn dann die tödliche
Kugel getroffen. Kunstmaler Schmauk hat sich selber übertroffen
mit einem Gedenkblatt für die Gefallenen, das vom Kirchengemeinderat
für jedes Haus, das einen Gefallenen beklagte, bestimmt wurde.
m März 1915 legte der alte Kirchenpfleger sein
fast 40 Jahre geführtes Amt nieder. An seine Stelle trat der junge
Christian Warth, der immerhin auch so alt war, daß er erst November
1916 den Gestellungsbefehl bekam und bald wieder entlassen wurde. Er
hat mit außerordentlicher Gewandtheit und unermüdlicher
Treue allmählich die ganze Last der Kirchenpflegerechnung und
des Steuereinzugs auf sich genommen gegen geringe Entlohnung. Am 17.
Dezember konnte man mit besonders dankbarem Herzen die Siegesglocken
läuten, war doch die "russische Dampfwalze" zusammengebrochen.
Aber im Jahr 1916 tobten im Westen, vor allem an der Somme jene fürchterlichen
Materialschlachten, bei denen man sich bloß wunderte, daß überhaupt
noch jemand am Leben blieb. Verwundeten- und Totenlisten wurden längst
keine ,[pag215] mehr ausgegeben. Und daheim wurde es auch immer schwieriger,
der völkerrechtswidrigen Aushungerung zu begegnen. Die Brotkarten
wurden eingeführt, und jetzt hat manches gelernt, andächtig
um das tägliche Brot zu bitten und ein Stücklein als eine
Gabe Gottes anzusehen, denn grammweise mußte jetzt den Hausgenossen
das Brot zugeteilt werden. Zu den Brotkarten kamen Fleischkarten, zuletzt
bekam man 1/2 Pfund in der Woche, und von 1917 an wurden Zucker und
Butter und alles mögliche nur noch auf Karten abgegeben. Das schlimmste
war, daß Ende 1916 nur noch Greise, Kranke und Kinder Milch bekamen.
Es war auffallend, wie die dicksten Leute mager wurden, aber schrecklich,
wie der Milchmangel Gesunde krank und Kranke nicht gesund werden ließ.
Freilich die Gewissenlosen wußten sich zu helfen. Wenn sie Geld
genug hatten, konnten sie sich ein "Pensionsschwein" kaufen und die
Selbsterzeuger markieren, indem sie sich ein Schwein von einem Bauern
mästen ließen. Das Schwarzschlachten und überhaupt
das Hamstern hat im Laufe der Zeit ungeheure Ausdehnung gewonnen, und
ganz allein bloß von dem, was die Karten einem zubilligten, haben
nicht viele gelebt, und die es taten, sind fast oder ganz an Schwäche
gestorben. Im Jahr 1916 fiel zum Unglück auch noch die Kartoffelernte
schlecht aus, und nun mußte sich das deutsche Volk, soweit die
Leute nicht Selbsterzeuger waren, mit Bodenkohlraben begnügen,
wie in den fünfziger Jahren, und viele haben sich's schmecken
lassen. Noch schlimmer wurde es, als im kohlenreichen Deutschland auch
noch Kohlenmangel eintrat. Der Winter 1916/17 wurde so kalt, daß man
in den Schulen Kohlen Vakanz gab; auch die Kirchenheizung versagte
zeitweilig, und besorgt schaute man nach den Gaisburger Gaskesseln,
ob sie in der Höhe seien und das Gas reiche. Daß die Straßenbeleuchtung
möglichst eingeschränkt wurde, kam dem lieben Mond zugute,
der nun auch wußte, zu was er den verwöhnten Städtern
sein volles Licht spendete. Auch in der Kirche bat man sich bei den
Kriegsbetstunden mit einem Mindestmaß von Licht gerne begnügt.
Die Prospektpfeifen an der Orgel waren seit Februar 1917 verschwunden,
und die Lücke wurde mit Rupfentuch verhüllt. Am 29. Juni
1917 haben wir uns dann mit schwerem Herzen von unseren zwei kleineren
Glocken verabschiedet.
Die größere hatte nur die Inschrift: "Umgegossen
von G. F. Bücher, Untertürkheim 1786; die kleinere: Christian
Ludwig Neubert goß mich in Ludwigsburg 1763. M. Joachim Ludwig
Neuffer, Pastor; Andreas Wolff, Keller- und Amtmann; Johann Gottlieb
Koch, Bürgermeister; Johann Moriz Zais, Kirchenkastenpfleger.
Vikarius war damahlen M. Christ. Friedr. Hildebrand in Stuttgart."
[pag216] Das Jahr 1917 begann mit einem Winter, der
nicht enden wollte. Am 29. April wurde es endlich Frühling oder
besser Sommer; denn nun kam ein Mai, der in kurzer Zeit das Versäumte
nachgeholt hatte. Freilich hat dann an Peter und Paul ein Hagelwetter
in dem größten Teil des Zehnten verderbt, was gewachsen
war; und doch wuchs bei allergünstigster Witterung heran, was
noch wachsen konnte, so daß es ein ganz gutes Jahr wurde. Der
Wein wurde mit 1000 Mark der Eimer bezahlt. Die reiche Bucheckernernte
hat manchem das fehlende Fett geliefert, und die glücklichen Feldzüge
in Rumänien und Italien besserten die schwindenden Lebensmittelvorräte
auf. Im März wurde eine Kriegsküche eingerichtet, wo jedermann
um wenig Geld sich ein Mittagessen holen konnte. Aber nun wurden allmählich
auch Kleiderstoffe und Leder knapp, und im April wurden Richtlinien
herausgegeben, die bestimmten, was jedes an Kleidern und Wäsche
nötig habe: Ein Sonntagsund zwei Werktagsanzüge sollten für
Männer und in der Hauptsache auch für Frauen genügen.
Zwei Bettücher und zwei Bettbezüge, eins im Gebrauch und
eins am Seil!
Das Reformationsjubiläum, an dem man einst geglaubt
hatte, die Grundsteinlegung des Pfarr- und Gemeindehauses halten zu
können, ist wie das Jahr vorher das Regierungsjubiläum unseres
Königs wohl gefeiert, aber im Drang der Ereignisse ziemlich wenig
beachtet worden. In den Kirchengemeinderat wurden durch Ersatzwahl
Bahnhofkassier Stäudle, Heinrich Schweizer und Kaufmann Zuckerschwerdt
gewählt. Mesner Lämmle hatte schon Oktober 1915 aus Gesundheitsrücksichten
gekündigt, aber doch mit Hilfe seiner Frau den Dienst weiter geführt,
bis dann im Frühjahr 1918 Ernst Kreder das Amt übernahm.
Fürs Pfarr- und Gemeindehaus gelang es, den Rühleschen Weinberg
im Äckerle zu erwerben. Im Juni war Stadtvikar Knebel an die Stelle
Hartmanns getreten. Er war wegen Herzleidens aus dem Heeresdienst entlassen
worden. Seit 1916 wurde allmonatlich ein besonderer Militärgottesdienst
gehalten. Im Hirschsaal pflegten die Kraftfahrer ihre Weihnachtsfeier
zu verunstalten. Von den Fliegerüberfällen und ihrer Wirkung
durfte kraft der militärischen Zensur auch in der "Chronik", also
lange nachher, nichts berichtet werden. Der erste im September 1915
geschah an einem wunderschönen Morgen. Mit Interesse betrachteten
wir von der Lindenschule aus die weißen Schrapnellwölkchen,
die so zierlich am blauen Himmel erschienen. Wieviel von den im Hof
der Rotebühlkaserne angetretenen Soldaten verwundet oder getötet
wurden, hat man nie erfahren. Im weiteren Verlauf des Krieges wurde
den Überfällen aller Reiz genommen. Einmal kam einer, als
eben die Kinder aus dem Kindergottesdienst entlassen waren, der damals
so besucht war, daß man an Weihnachten nahezu 1000 Gaben brauchte.
Neben der Kelter schlug eine Bombe ein und verwundete einen Knaben
schwer am Bein, während seiner Mutter Gesicht mit kleinen Glassplitterwunden
bedeckt war. Einmal wurde der gute Lämmle straffällig durch
vorzeitiges Läuten, doch konnte der Kirchengemeinderat die Strafe
abwenden. Ein andermal ging eine Bombe in der Gartenstraße nieder
und bewies die Durchschlagkraft ihrer Sprengstücke, glücklicherweise
ohne Manschen zu verletzen. Im allgemeinen haben die Bombenwerfer so
schlecht gezielt und getroffen, daß sie einmal ein großes
Loch in einen Weinberg droben in den Hetzen hineingeschossen haben,
also recht weit weg von dem lohnendsten Ziel, den Daimlerwerken, in
denen ja vor allem die Flugzeugmotoren gemacht wurden und eine ungeheure
Schar von Arbeitern beschäftigt war. Im Volksmund hieß es,
die Daimlerwerke dürfen sie nicht treffen, weil da internationales
Kapital drin stecke. Ein Beweis für den Respekt vor den Kapitalmächten.
So ist also durch die Flieger bei uns weniger Schaden als Unmuße
angerichtet worden. Unmuße bei denen, die vorschriftsgemäß sich
in den Keller setzten, auch wenn sie aus dem warmen Bett herausmußten.
So kam das Jahr 1918 und jene großartige Frühjahrsoffensive,
die unsere siegreichen Scharen bis in die Nähe von Amiens brachte.
Man konnte sich freilich, auch für den Fall, daß es gelinge,
Engländer und Franzosen auseinander zu sprengen, doch ein siegreiches
Ende des wahnwitzigen Mordens nicht recht vorstellen. Denn nun erschienen
in zunehmendem Maße die Amerikaner auf dem Kriegsschauplatz,
gerufen von der raffinierten Lügenpropaganda und den gefährdeten
Milliarden. Des deutschen Volkes Kraft aber ging zu Ende. Am 5. Oktober
1918 wurden vom Kirchengemeinderat zur neunten Kriegsanleihe noch einmal
4000 Mark gezeichnet.
[pag217] "Es ist nötig, das Äußerste
zu tun." Man hat den Pfarrern aus ihrem Eintreten für diese Kriegsanleihen
einen Vorwurf gemacht und sie Kriegsverlängerer gescholten, man
hätte schon die Glocken nicht hergeben sollen und Frieden um jeden
Preis machen. Aber daß der Friede nur um den Preis der Vernichtung
zu haben war, hatte schon die Aufnahme des kaiserlichen Friedensvorschlags
im Jahr 1916 gezeigt. Ein gefangener Engländer, mit dem ich in
der Weinlese mich unterhielt, setzte mich in Erstaunen, mit welcher
Sicherheit er darauf rechnete, daß sie es gewinnen. Daß dann
Deutschland so absolut wehrlos am Boden lag, nachdem die Feinde ihre
letzte Lügenprobe abgelegt und die Bedingungen, unter denen sie
den Waffenstillstand angeboten, nicht gehalten hatten, das haben wir
der Revolution zu danken. Und da spielt auch wieder Untertürkheim
eine Rolle. Von den Daimlerwerken aus setzte sich jener große
Demonstrationszug in Bewegung, der das Signal zur Revolution gab. Und
dann wieder ist allen unvergeßlich jener Morgen, an dem Stahlhelme
in der Cannstatter Straße erschienen und Fensterschließen
geboten wurde. Der Kirchturm mußte geöffnet werden, da sollten
die Spartakisten ein Waffenlager haben. Tübinger Studenten vor
allem waren es, die damals der Revolutionsregierung zu Hilfe kamen
gegen die bolschewistischen Spartakisten.
Am 19. Dezember 1918 war der ganze Ort beflaggt zur
Begrüßung der heimgekehrten Krieger. Auf die Gefangenen
mußte man noch lange warten. Während Deutschland verpflichtet
wurde, die Gefangenen alsbald freizulassen, haben vor allem die Franzosen
das sadistische Bedürfnis gehabt, ihr Mütchen noch eine Zeitlang
an ihnen zu kühlen und sie als Sklavenarbeiter zu mißbrauchen.
Den Unterhalt mußte natürlich der Boche bezahlen; "Le boche
payera tout" (Der Sauhund muß alles bezahlen), war noch lange
die stehende Redensart der Franzosen, namentlich als es sich dann um
die Reparationskosten handelte, die zum Teil in schwindelhafte Höhe
hinaufgetrieben wurden. Die andere, noch gemeinere Schändlichkeit
der Alliierten und Assoziierten war die Fortsetzung der jetzt vollends
absolut völkerrechtswidrigen Blockade, weil dadurch Kinder und
Greise, Schwache und Kranke getroffen wurden. Wie haben die Deutschen
sich beeilt nach der Übergabe von Paris 1871, die Stadt mit Lebensmitteln
zu versorgen! Deutschland war wirklich bis zum Ende des Kriegs bettelarm
geworden. Wie viele sind barfuß oder doch barfuß in Holzsandalen
gelaufen, ohne Hut, in altem Kittel! Einen neuen Rockt sich machen
zu lassen, war ein verwegener Gedanke. Nachdem die Schweine massenhaft
geschlachtet worden waren, weil sie den Menschen mehr Nahrung entziehen
als liefern, war man genötigt, ganz fleischlose Wochen einzuführen.
Und das Brot! Wer keinen guten Wagen hatte, war übel dran. Kein
Mensch wußte, was alles dem Kriegsbrot beigemischt war. Beim
Aussieben des Mehls fanden sich auch Laubteilchen. Eigentlich war ja
das von den Kindern massenhaft gesammelte Laubheu zum Pferdefutter
bestimmt. Auf der Kirchenbühne wurde es getrocknet, und Pfarrer
und Rektor waren einmal eifrig damit beschäftigt, es zu verrechen.
Wer kein Selbstversorger war, schaute wohl mit lüsternen Blicken
nach einem richtigen knusperigen Brotlaib, der aus dem Gemeindebackofen
kam. Im Mai 1918 wurde einmal eine Windelwoche veranstaltet und Sammler
ausgeschickt, um Material für dieses erste Bekleidungsstück
des Menschenkindes zusammenzubringen. Diese Bettelarmut hat noch lange
fortgedauert. Am 12. März 1920 konnte der Beschluß gefaßt
werden, "nachdem die in Frankreich Gefangenen in der Hauptsache zurückgekehrt
sind, sollen sie im Vormittagsgottesdienst des Sonntags Judika begrüßt
werden".
Die Zeit nach der Rückkehr unserer Krieger kennzeichnet
sich durch eine ganz unglaubliche Tanzwut. Das lange Entbehren äußerte
sich ganz ungestüm. Bei den Buben war es eine fürchterliche
Stauchwut. Die Kickers sind ja englischer Import. Es hat manchen Vater
manches Paar Schuhe gekostet, daß der kleinste Knabe schon jede
Konservenbüchse, ja einen Stein, der ihm in den Weg kam, auf der
Straße herumstauchte. Schlimmer als das war die mit der Entwertung
des Geldes in schreckenerregender Weise zunehmende Spekulationswut.
Jeder Handlungslehrling wollte geschwind Millionär werden, und
bald sollten wir alle Billionäre werden ! Etwas für die Gesundheit
der Jugend Verderbliches war die Rauchwut. Im Felde hatten sich auch
Nichtraucher das Rauchen angewöhnt. "Manchmal hat die Pfeife oder
Zigarette den Hunger [pag218] betäuben mussten. Jetzt wurde das
Zigarettenrauchen zu einer Sucht, die manche junge Lunge ruiniert bat.
Und zu einer Zeit, da man noch am Notwendigen Mangel litt, wurden schon
für l 1/2 Milliarden Zigaretten eingeführt, wie während
des Kriegs, als viele hungerten, 9 Millionen Zentner Gerste zu Bier
verarbeitet werden durften. Eine freundlichere Folge der Not des Kriegs
und der Nachkriegszeit war der Eifer, mit dem alles ein Stücklein
Land zum Anbauen begehrte. Da ist ein leider nur recht kleines Stück
des Exerzierplatzes in kleinen Teilen wieder seiner ursprünglichen
Bestimmung übergeben worden. Wenn so alle möglichen Leute
das Land anbauen lernten, mag das immerhin den schlimmen Gegensatz
zwischen Stadt- und Landbewohnern etwas gemildert haben. Als die Preise
immer höher stiegen, hörte man nur noch über die wucherischen
Bauern schimpfen, denen man in anderen Zeiten ohne die geringsten Gewissensbisse
ihre Erzeugnisse um einen wucherischen Spottpreis abgenommen hatte.
Eine andere Not, die die Rückkehr unserer Truppen mit sich brachte,
war die Wohnungsnot. In den zwei ersten Jahren nach dem Krieg wurden
hier etwa 180 Ehen geschlossen. Wo sollten die alle unterkommen ? Man
schränkte sich aufs äußerste ein. Es gab greuliche
Notwohnungen. Auch die Hausbesitzer hatten schlimme Zeiten, da ein
Haus mehr ein fressendes als ein rentierendes Kapital darstellte. In
der Gartenstadt wurde von 1920 an wieder gebaut; aber die Häuschen,
so einfach sie waren, kosteten trotz Zuschuß 40 000 Mark, und
es ist allmählich so gekommen, daß in den meisten "Einfamilienhäusern" zwei
hausen. Die Stadt baute ein großes Wohnhaus an der Stelle der
abgebrannten Zehntscheuer, später ein noch größeres,
zu dem ein Stück der Kelter und "die langen Dächer" verwendet
wurden, eine von der Stadt erworbene interessante Häuserruine.
Sodann wurden im Wallmer 4 Reihenhäuser für etwa 100 Familien
gebaut. Aber erst als 1930 mit dem "neuen Wallmer" Wohnungen für
300-400 Familien geschaffen waren und die Wangener ihren "Wallmer" bekommen
hatten, war der dringendsten Wohnungsnot gewehrt, und die allmählich
gemilderte Zwangsgewalt des Wohnungsamtes konnte soweit aufgehoben
werden, daß sie nicht mehr schmerzte. Seitdem hat nun das Siedlungswesen
und der Bau von Kleinwohnungen mächtig zugenommen, und die Gartenstadt
hat im Jahr 1933 ihr Areal vollends überbaut und auch schon ziemlich über
die Fellbacher Straße hinüber sich ausgedehnt.
Die Wohnungsnot ist auch schuld gewesen, daß die
zweite Pfarrstelle, von der schon so lange die Rede war, erst nach
Weihnachten 1921 besetzt werden konnte. Im kirchlichen Leben war das
Jahr 1919 ein recht bewegtes, handelte es sich doch um eine Neuordnung
der Kirche, nachdem die Revolution die Trennung von Kirche und Staat
zum Grundsatz erhoben hatte. Es mußte eine verfassunggebende
Landeskirchenversammlung gewählt werden, und die Frauen waren
jetzt auch wahlfähig und wählbar. Es wurden Gemeindeversammlungen,
eine über die Bekenntnisfrage, in der Kirche gehalten. Dann stellten
sich in der Kirche die Kandidaten der beiden Richtungen der Gemeinde
vor. Bei der im November folgenden Kirchengemeinderatswahl wurden Vorschläge
der Gemeinschaften und der Demokratischen Partei eingereicht, und Moritz
Gaßmann, der auch in die Landeskirchenversammlung gewählt
worden war, Hengstberger, Wied mann, A. Kurtz, Weber, Steudle, H. Schwerer,
Altkirchenpfleger Warth und Christoph Gaßmann gewählt. Eine
Frau gelangte nicht in den Kirchengemeinderat wie in Wangen. Von 4328
haben 1081 abgestimmt. Der neugegründete Evangelische Volksbund, "eine
Organisation, gegründet zur Verwirklichung und Verteidigung der
evangelischen staatsfreien Volkskirche", hat auch hier eine allerdings
nicht große Anzahl von Mitgliedern gewonnen. Er bat vor allem
durch den Evangelischen Preßverband der Kirche einen unumgänglich
notwendigen, segensreichen Dienst geleistet und in späteren Jahren
unserer Gemeinde immer wieder Vortragende geliefert. Am 30. Juni 1919
wurde Rektor Mast im Kirchengemeinderat verabschiedet "mit Worten warmen
Dankes und aufrichtiger Anerkennung seiner Verdienste um den Kirchengemeinderat
und die ganze Gemeinde". Er siedelte zu neuer außeramtlichen
Tätigkeit ins Remstal über. Sein Nachfolger wurde Rektor
Hengstberger. Schon vor dem Krieg wurde entsprechend dem neuen Schulgesetz
das achte Schuljahr eingeführt und auch während des Kriegs
trotz aller Schwierigkeiten durchgehalten. Es mußten freilich
so viele Dispensationen bewilligt werden, [pag219] daß Buben
und Mädchen von Untertürkheim und Wangen in einer Klasse
der Lindenschule Platz hatten. Daß Schule und Schulzucht unter
den Kriegs-, ,Revolutions- und Nachkriegsjahren gelitten haben, ist
begreiflich. In den sogenannten fliegenden Klassen, die von allen möglichen
Lehrern unterrichtet wurden, ist nicht viel gelernt worden. Wenn die
Zucht mangelhaft war, hieß es wohl: "Ja, die Väter fehlen
eben." In Wirklichkeit war es aber öfters so, daß es an
den Vätern fehlte. Darauf weist es doch hin wenn 1920 am 18. Januar
noch nicht einmal die Hälfte der Knaben in den Konfirmandenunterricht
kamen. Es begannen ja jetzt auch die Abmeldungen vom Religionsunterricht,
um den so heftig gekämpft wurde. Im Februar 1920 wurde auch eine
Gemeindeversammlung in der Kirche zur Besprechung der Schulfrage gehalten.
Auf der andern Seite war es ein Zeichen der Zeit, daß bei Daimler
in diesem Jahr eine Aussperrung und dann eine umfangreiche Entlassung
vorgenommen wurde. Die Arbeitslosigkeit erhob als drohendes Gespenst
ihr Haupt.
Eine große Arbeitsgelegenheit bildete die Neckarkorrektion.
Um Platz für die Bahn zu gewinnen, mußte der Neckar verlegt
werden. Die alte Brücke, die in den fünfziger Jahren als
die erste Gitterbrücke sich einen Namen gemacht hatte, wurde abgebrochen.
Ein Stück davon bildet den Steg über die Verbindungsbahn
an der Kienbergstraße. Die Fundamentierung des Bahndurchlasses
im Neckarbett erforderte starke Sprengungen, und die Stücke flogen
bis ins Höfle des Pfarrhauses herüber. Durch den Stichkanal
zum Elektrizitätswerk wurde dann die Badeinsel gebildet, deren
Stadion nun Tausenden von Großstädtern die erwünschte
Badegelegenheit gibt in ganz anderem Umfang als einst das Wellenbad
an der Neckarlust.
An
Evangelisationen hat es in den ersten Nachkriegsjahren nicht gefehlt.
Im Januar 1915 hatte der Evangelist Richter mit geistlicher Demagogie
die Kirche gefüllt. Im Jahr 1919 war es die landeskirchliche
Gemeinschaft unter Leitung der Brüder Munder, die im [pag220]
Konfirmandensaal und dann in der Kirche eine Evangelisation veranstaltete.
1920 hielt Obersekretär Elsäßer
in (Gemeinschaft mit dem Pfarrer zehn Evangelisationsvorträge
in der Kirche. Eine Evangelisation unter Frauen und Mädchen, durchgeführt
von einer Untertürkheimerin, Schwester Lina Haug, führte
zur Gründung eines Mädchenjugendbundes neben dem Jungfrauenverein.
Im regelmäßigen Gemeindedienst wurden neben den Bibelstunden
auch den Sommer über Bibelbesprechstunden gehalten, und längere
Zeit allmonatlich Abende des Evangelischen Bundes und Volksbundes,
dessen Vorstand Lehrer Wiedmann war. Die nächste Evangelisation
fand dann erst im Jahr 1924 durch Missionar Vielhauer statt.
Während des ganzen Kriegs hat es nie ein eigentliches
Fehljahr an Wein und Obst gegeben. Nachdem der Herbst 1920 sehr verschieden
ausgefallen war, wurde der 1921er recht gut. Die Wärme war noch
zur Zeit der Lese so groß, daß der Wein schon in den Bütten
zu gären anfing und eine ungewöhnlich dunkle Färbung
bekam. Der Eimer kostete 4000-5000 Mark. Die Teuerung war in diesem
Jahr schon so weit fortgeschritten, daß man für einen Zentner
Kartoffeln 70 Mark, für ein Liter Milch 3 Mark bezahlen mußte,
unser Geld war so entwertet, daß der Franken 50, der Dollar 300
Mark galt. In diesem Jahr hat nach kurzem Dienst Ernst Kreder, "das
Muster eines Mesners, der seinen Dienst mit dem Herzen versah", denselben
seiner Frau zurückgelassen, die in den Fußstapfen ihres
Mannes wandelnd, für ihre Kirche mütterlich besorgt war.
Besonders in der schwierigen Inflationszeit verstand sie es trefflich,
die Leute gebewillig zu machen. In der Gartenstadt, in der von 1920
an wieder jedes Jahr ein Los gebaut wurde, wurden 111 Unterschriften
um Einrichtung regelmäßigen Gottesdienstes in der von der
Stadt erbauten Kinderschulbaracke gesammelt. Im Sommer 1921 wurde einmal
ein Gottesdienst auf dem freien Platz gehalten. Als die Städtische
Schulpflege die Erlaubnis zur Benützung des leerstehenden Kindergartensaals
gegeben hatte, wurde vom 5. März 1922 an alle 14 Tage Gottesdienst
gehalten. Bibelstunde ist am Mittwochabend jahraus, jahrein bis auf
den heutigen Tag gehalten worden, wenn auch manchmal mit einem sehr
kleinen Häuflein. Ebenso wurde den Gemeindegliedern ein Kindergottesdienst,
zuerst in Verbindung mit der Evangelischen Gemeinschaft, eingerichtet.
Im September wurde das fünfundzwanzigjährige Jubiläum
der Diakonissenstation feierlich begangen. Die in diesem Jahr einsetzende
Kirchenaustrittskampagne hatte den Erfolg, daß 61 männliche
und 30 weibliche Gemeindeglieder mit 12 Kindern die Kirche, in die
sie hineingeboren worden waren, mit der sie aber jeden Zusammenhang
verloren hatten, verließen. Mit dem Schluß des Jahres konnte
nun auch endlich, nachdem eine genügende, freilich sehr unruhige
Wohnung am Ende der Urbanstraße gefunden war, der zweite Stadtpfarrer
Haap, von Neckartenzlingen kommend, aufziehen. Am 20. Januar wurde
er bei einem Gemeindeabend begrüßt. Das Stadtvikariat war
mit der Errichtung der zweiten Pfarrstelle aufgehoben. Stadtpfarrer
Haap nahm sich des Jünglingsvereins an, dessen Bezirksvorstand
er geworden ist. Seine Frau gründete einen Mädchenverein
neben dem Jungfrauenverein und Jugendbund. Es gab genug junge Mädchen,
um diese drei Vereine vollzählig zu erhalten. Nachdem Lehrer Wiedmann
zurückgetreten war, wurde Stadtpfarrer Haap zum Vorstand des Evangelischen
Volksbundes gewählt, den er dann in einen Gemeindeverein umwandelte.
Ebenso hat er mit Stadtpfarrer Binder in Wangen die Vorstandschaft
des Kinderferienheims übernommen.
Schon lange hatte sich die Gemeinde um Wiederherstellung
ihres Geläutes gemüht. Als man aber dank einer Hauskollekte
mit 8695 Mark und einer Gabe aus Amerika von 9680 Mark die ursprünglich
vorgesehene Summe so ziemlich beieinander hatte, stellte es sich heraus,
daß das Glockengut im Jahr 1920 50 Mark pro Kilogramm kostete.
Doch gelang es, bis 1921 die Kosten mit Hilfe zweier weiterer Amerikanergaben
zusammenzubringen, und am 23. Februar wurden die von Glockengießer
Kurtz in Stuttgart gegossenen Glocken feierlich eingeholt. Der alte
Pfarrer hielt vom Wagen herunter eine Ansprache, und die versammelte
Menge sang mit Begleitung des Posaunenchors und der Feuerwehrmusik.
Am Sonntag darauf, den 26. Februar, wurden im Gottesdienst die Glocken
eine um die andere und dann alle zusammen geläutet. Jetzt hieß es
nicht mehr eintönig: "Kommt, kommt!", sondern im
Dreiklang: "Kommt
alle, [pag221] kommt alle!" Auf der größeren Glocke
steht zum Gedächtnis der Amerikagaben: "Von fern überm Meer,
der
Heimat
geweiht, zu des Herrn Jesu Ehr, künd' ich Liebe allzeit." Auf
der kleinen: "Zerschlagen zu des Vaterlandes Wehr, gegossen wieder
neu zu Gottes Lob und Ehr." Mit der Wiedereinsetzung der Prospektpfeifen
wurden dann die letzten Kriegsspuren ans dem Gotteshaus entfernt. Der
Wunsch des Organisten Keinath, daß auch die Orgel erneuert werden
möchte, ging in Anbetracht der unerschwinglichen Preise nicht
in Erfüllung. Dagegen nahm der Organist Ende des Jahres selbst
seinen Abschied. An Silvester 1922 hat er zum letztenmal gespielt,
und Stadtpfarrer Lechler dankte für seinen fünfundzwanzigjährigen
Dienst: "Wie oft haben wir uns nicht bloß an seiner trefflichen
Begleitung des Gesanges, sondern namentlich auch an seinen prächtigen
Vor- und Nachspielen ergötzt und erbaut!" Er war ein verständnisvoller,
hilfsbereiter Mitarbeiter bei der Ausgestaltung des Gottesdienstes
und hat wesentlich dazu beigetragen, daß hier so viele Melodien
gehen. Am 3. September 1922 hat die (Mundersche) Landeskirchliche Gemeinschaft
ihren neuerbauten Saal eingeweiht. Am Reformationsfest wurde ein Parallelgottesdienst
in diesem Saal gehalten, nachdem schon beim Bau der Kirchengemeinderat
Verhandlungen wegen Mitbenützung gepflogen und einen Beitrag angeboten
hatte. In den letzten Jahren ist regelmäßig Kindergottesdienst
und Bibelstunde für Bezirk II dort gehalten worden, während
die Parallelgottesdienste sich auf einzelne Tage, wie Karfreitag und
Silvester, beschränkten.
Mit dem Jahr 1923 hatte die Inflation ihren Höhepunkt
erreicht. Zu dem rasenden Aufstieg der Dollarpreise trug wesentlich
die letzte Heldentat der Franzosen, die "friedliche Ingenieurkommission",
bei, die mit Tanks und Kanonen und Regimentern in das Ruhrgebiet entsandt
wurde. War Anfang 1922 der Dollar noch um 200 Mark zu haben, so galt
er bis zum Ende des Jahres 10 500. Mit dem Ruhreinbruch stieg er auf
43 000, bis Mai 60 000, Juni 105 000, Ende Juli 1 Million. Anfang Oktober
hatte er die Milliarde erreicht und bis Mitte [pag221 ]November die
Million überschritten. Dementsprechend stieg das Pfund Schweinefleisch
1921 von 15 auf 800 Mark und so fort, bis es Ende Oktober 7 Milliarden
und schließlich 2 Billionen 100 Milliarden - 2,10 Goldmark erreichte.
Es war eine aufregende Zeit. Das Geld, das man einnahm, konnte nicht
schnell genug ausgegeben werden; was man kaufte, nicht schnell genug
bezahlt werden. Alte Leute, die sich in dieses Hetzen nicht finden
konnten, sparten, wie sie es gewohnt waren, ihr Geld, das Sie z.B.
für Prestlinge eingenommen, um Kohlen dafür zu kaufen, und
bis der Kauf geschlossen wurde, bekamen sie statt einem Zentner nicht
einmal ein Pfund. Alten ehrlichen Handwerkern war es zuwider, so hohe
Preise zu fordern, und darüber verdienten sie nichts. Die Kirchenpflege
hatte in kürzester Zeit die Kirchensteuer des Jahres 1923 ausgegeben
und sollte doch Gehälter bezahlen. So konnte man sich nur noch
auf das sonntägliche Opfer verlassen, und mit ihm und freiwilligen
Gaben hat sich die Kirchengemeinde durch die üble Zeit durchgeschlagen.
Als man notwendig ein neues Glockenseil brauchte, machte die treue
Mesnerin eins ums andere willig, ein oder ein paar Meter daran zu zahlen,
und wir bekamen das Glockenseil, ohne Schulden machen zu müssen.
Im Herbst wurden von den Weingärtnern an der Kelter 200 Liter
Wein gesammelt, so mußte man keinen Abendmahlswein anschassen.
Der Krankettpflegeverein hatte an das Diakonissenhaus, das wie alle
Anstalten in der größten Not war, stets steigende Summen
zu zahlen, und die beschlossenen Extrabeiträge reichten nie aus.
Bis sie gesammelt waren, hatten sie den Wert verloren. Da beschloß der
Ausschuß, um mit dem Steigen des Preises Schritt zu halten, monatlich
den Wert eines Doppelweckens einzuziehen, und die Ausschußmitglieder
zogen nun fröhlich ihrem Doppelwecken nach. Eine Brezel kostete
Anfang des Jahrs 25 Mark, zuletzt 45 Milliarden - 4 1/2 Goldpfennig.
Als Kirchenchordirigent war auf Lehrer Wiedmann, der den Chor so lange
geleitet und auf eine erfreuliche Höhe gebracht hatte, Lehrer
Stolz gefolgt. Er verzichtete nun auf jede Belohnung und hat doch seine
Buben, ohne daß sie hungern mußten, durch die teure Zeit
durchgebracht.
Das Ende des Jahres brachte die Rentenmark, die den
alten Dollarpreis wiederherstellte, der Frank galt sogar nur 73 Goldpfennige.
Aber nun begann erst der Jammer, denn die Regierung erklärte:
Mark ist Mark, und alle die Leute, meist Alte und Arbeitsunfähige,
die von ihren Zinsen gelebt hatten, waren nun um ihr Geld betrogen
und mitunter bettelarm geworden. Vor allem wurden die Milliarden von
Kriegsanleihen, die man seinerzeit als mündelsicher angepriesen
hatte, beinahe werflose Papiere. Sie sollten zu einem geringen Prozentsatz
ausgelost werden, und mancher, der Tausende dem Staat geliehen, wartet
heute noch, wenn er es nicht vorzog, sein Papier um etliche Mark zu
verkaufen. Wie viele, die im Profit gewesen waren, wie gut sie ihre
Häuser oder Grundstücke verkauft haben, hatten nun statt
des Sachwerts nur noch etliche Rentenmark und waren um ihren Besitz
betrogen. Denn nicht bloß der Staat, sondern auch die Privatleute
hatten gemäß der Aufwertungs-, richtiger Entwertungsgesetzgebung
ihren Gläubigern nur noch einen Prozentsatz, höchstens 25
v. H. zu zahlen. Und die Schuldner machten sich das natürlich
zunutze. Man berichtete es als eine Wunderleistung, wenn es Leute gab,
die eine Schuld im vollen befrag heimzahlten, und hielt das wohl für
eine Dummheit, wie man auch sagen hörte: "Ich bin auch so dumm
gewesen und habe mein Gold und mein Kupfer alles hergegeben." Freilich
gab es nur zu viele, die wirklich nicht hätten bezahlen können.
Und das Deutsche Reich, das seine Bürger so jämmerlich betrogen
und bestohlen hatte, mußte nun dafür seinen Peinigern, den
sogenannten Siegerstaaten, umso mehr bezahlen. Es hatte ja nach ihrer
Ansicht seine Kriegsschulden los und also alle Ursache, den an Amerika
verschuldeten Siegern die ihren zu zahle".
Das Jahr 1923 war für Bohnen und Gurken nicht
günstig, dagegen ist in dem heißen Sommer ein guter Wein
gewachsen, während das folgende Jahr einen Fehlherbst brachte.
Umgekehrt fehlte es dann nicht an Obst und Gemüse, nur daß die
Einfuhr von Trauben und Südfrüchten das einheimische Obst
fast unverkäuflich machte. Mit dem Jahr 1923 hat Lehrer Gießer
den Organistendienst übernommen, und es war erfreulich zu sehen,
wie er mit größtem Fleiß und Gewissenhaftigkeit sich
in dienen Dienst eingearbeitet hat und von Jahr zu Jahr gewachsen und
mit seiner geliebten Orgel zusammengewachsen ist. Im August [pag222]
wurde auch das Stadtvikariat wieder besetzt und Stadtvikar Frick als
Katechet für Untertürkheim und Wangen angestellt. In der
Gartenstadt wurde nun allsonntäglicher Gottesdienst eingeführt.
Im Jahr 1924 wurde zum erstenmal eine Landeskirchensteuer
eingezogen. Es war ein Übelstand, daß man für dieselbe
wegen der Inflationsjahre keine Grundlage hatte und so auf Schätzung
angewiesen war, und "schätzen kann fehlen". Dabei ist es natürlich
immer so, daß nur die zu hoch Eingeschätzten sich beschweren.
Ein Kirchenkonzert des Kirchenchors hat "den alten Leutlein" gegolten
und in manches Altenstüblein Freude gebracht. Mit dem Jahr 1924
wurde das große Werk der Neckarverlegung beendigt, und in stattlicher
Breite zieht der Fluß unter der neuen Brücke durch, deren
bewegliches Wehr im Verein mit den hohen Uferdämmen jede Überschwemmung
unmöglich macht. Auf diesen Dämmen haben wir den schönsten,
mit Ruhebänken versehenen Spazierweg.
In der Gartenstadt sind es bis zum Jahr 1925 245 Häuser
geworden. In der Person Sigmund Schweizers, den man den Organisator
des kirchlichen Lebens der Gartenstadt nennen könnte, hat sie
auch den ersten Vertreter im Kirchengemeinderat bekommen. Er wurde
als Ersatz für Rektor Hengstberger gewählt, der aus Gesundheitsrücksichten
austrat. Im Vereinsgarten draußen ist unter Leitung von Stadtpfarrer
Haap an Stelle des Zeltes, das in dem regenreichen Sommer 1924 sich
wenig bewährt hat, für das Ferienheim eine Daimlerbaracke
zu einem geräumigen Saal eingerichtet worden, der mit einem Gartenfest
des Gemeindevereins eingeweiht wurde.
Am 14. September 1925 wurde das fünfzigjährige
Jubiläum des Altkirchenpflegers Warth auf seinen Wunsch im Kreis
der Familie und des Kirchengemeinderats in der Sakristei festlich und
traulich begangen. Seinen Sitz im Kirchengemeinderat behielt er vorderhand
bei. In den Jahren 1925 und 1926 wurde die Außenrenovation der
Kirche und des Turmes vollendet und nach Pfingsten elektrisches Geläute
eingerichtet. Läutbuben waren nicht mehr zu haben, und Erwachsene
wären viel teurer gekommen. Der alte Wunsch nach einer Galerie
am Turm zum Choralblasen, der als unerfüllbar aufgegeben werden
mußte, hat sich dahin gewandelt, daß auf dem der Straße
zugekehrten Giebel der Kirche ein Storchennest (für die Untertürkheimer
Störch) gebaut werden soll, von dem aus der Posaunenchor, ohne
von der drangvollen Enge des Türmchens beschwert zu werden, seine
Lieder blasen könnte. Geopfert und Geld gesammelt wurde inzwischen;
wann aber das Storchennest Wirklichkeit wird, steht dahin.
Durch die Kirchengemeinderatswahl 1925 kamen neu herein
Oberlehrer Bofinger und Stadtrat Harrscher. Julius Lang als Vertreter
des Kirchenchors wurde nach dem Tode Christoph Gaßmanns als Ersatz
gewählt. Als etwas Besonderes ist zu erwähnen, daß eine
gemeinsame Schuljugendweihnachtsfeier 1926 in der Kirche gehalten wurde.
Im Jahr 1925 hat die
[pag224] Zahl der Taufen mit 67 ihren Tiefstand
erreicht. Auch in den Kriegsjahren ist sie nicht unter 112 gesunken.
Dagegen waren es schon 1924 nur 72, 1926 81, die Höchstzahl 1931
mit 116, dann wieder unter 100. Wohl nahm die Arbeitslosigkeit zu,
und die Entlassungen und Arbeitsverkürzungen mehrten sich daß einer
froh sein mußte, noch 24 Stunden in der Woche arbeiten zu dürfen.
Auch die Wohnungsnot war noch nicht behoben trotz der Erbauung des "alten
Wallmers". Aber der tiefste Grund solchen Rückgangs ist doch der
Mangel an Mut zum Kind und an Freude am Kind und an dem Glauben der
Väter, daß Kinder eine Gabe Gottes sind. Im Jahr 1926 legte
Rektor Hengstberger Sein Amt nieder, und an Seine Stelle trat Rektor
Fecht, der aber Schon im Jahr 1929 durch Rektor Kling ersetzt wurde.
Weil aber dessen politische Tätigkeit ihm die Führung der
Rektoratsgeschäfte unmöglich machte, trat Oberlehrer Gießer
jahrelang für ihn ein, bis die Minderung der politischen Verhältnisse
Rektor Kling die volle Führung seines Amtes ermöglichte.
Mit dem Jahr 1926 fing Stadtpfarrer Haap ein Gemeindeblatt an, das
bald 1300 Abonnenten zählte, und auf 1. Oktober wurde Elisabeth
Hummel als Gemeindehelferin angestellt. Auch dem Ziel des Pfarr- und
Gemeindehauses kam man näher durch Vergrößeruug des
Bauplatzes im Äckerle um den Gustav Zaißschen Weinberg.
Oberbaurat Otto spielte freilich Zukunftsmusik, als er dem Kirchengemeinderat
eine stattliche Kirche am Ende der Scherrenstraße vormalte.
Nachdem Oberlehrer Stolz die Leitung des Kirchenchors
niedergelegt hatte, wählte der Kirchenchor Hermann Weidle zum
Dirigenten. Der Kirchengemeinderat gab nachträglich seine Zustimmung.
Im November wurde die wesentlich verbesserte Orgel wieder in Gebrauch
genommen. Wenn auch nicht alle Wünsche des Organisten erfüllt
worden waren, so freute er sich doch des Gewonnenen. Für Stadtpfarrer
Haap war es eine Freude, daß er eine staub- und rauchfreie Wohnung
in dem still und frei gelegenen Charlottenbau fand. Nach dem Scheiden
Stadtvikar Pflomms, der Pfarrer Eberle während seiner Evangelisation
hier und seiner Erkrankung vertreten hatte, traten für einige
Zeit Religionshilfslehrer an die Stelle des Stadtvikars. Der erste
war Stöckle, der letzte Schurr. Er hat 2 Jahre lang in zwanzig
und mehr Stunden Religionsunterricht an den hiesigen Schulen gegeben.
Um der Wohnungsnot weiter zu steuern, hat die Stadt
das große Wohngebäude zwischen der Langen und Bachstraße
errichtet. Bei den Abbrucharbeiten fand man einen alten Steuerschein. Überm
Neckar drüben wurde eine Kleinsiedlung, gemauerte Baracken mit
Zweizimmerwohnungen, hergestellt. Obgleich sie die Fortsetzung der
Wangener Untertürkheimer Straße ist, wurde doch die Versorgung
dieser Siedlung, weil sie auf Untertürkheimer Markung liegt, dem
Untertürkheimer Pfarramt zugeteilt. Der wild liegende Platz bis
zur Straße ist später hauptsächlich von den Bewohnern
der Untertürkheimer Straße eingeebnet und hergerichtet worden
und ist nun ein ganzes Schrebergartendorf geworden.
Während in Fellbach eine stattliche neue Kirche
in eigenartigem Stil, die Pauluskirche, und in Obertürkheim ein
mit drei Glocken versehenes Gemeindehaus in musterhafter Vollendung
und wünschenswerter Lage eingeweiht werden konnte, ist Untertürkheim über
eifriges Beraten und Plänemachen nicht hinausgekommen. Dagegen
konnte im Juni 1927 endlich das Gefallenendenkmal eingeweiht werden.
Der Vorsitzende des Denkmalausschusses, Oberlehrer Gießer, hat
viel Arbeit gehabt und viel Sitzungen halten müssen, bis dieses
Ziel erreicht war. Im Inflationsjahr haben die Tausende, die inzwischen
gesammelt worden waren, kaum gereicht, um dem Künstler Kiemlen,
als er einmal bei uns war, ein Vesper zahlen zu können. So mußte
man auch da von neuem zu Sammeln anfangen. Eine der letzten Gaben war
das Vermögen des aufgehobenen Verschönerungsvereins. Das
Denkmal steht jetzt in einer durch das Entgegenkommen der Stadt möglichst
günstig gestalteten Umgebung. Die Tafeln enthalten 230 Namen,
nicht alle von hier Ausgerückte, dagegen manche Bürgersöhne,
die von anderen Orten aus ins Feld gezogen sind. Es war trotz der Ungunst
der Witterung ein schönes Fest, das einmal wieder die ganze Gemeinde
Untertürkheim vereinigte, und alljährlich sprechen bei der
Gefallenengedenkfeier die Pfarrer beider Konfessionen.
[pag225]
Es ist ein obstreiches Jahr gewesen, und wenn es nicht
eben viel Wein gab, so löste man dafür bis zu 240 Mark für
das Hektoliter. Das Jahr 1928 brachte dann einen guten Herbst und doch
einen Preis von 500-530 Mark für den Eimer. Im Jahr 1927 wurde
dank der Arbeit der Gemeindehelferin ein Altenmittag gefeiert vom Gemeindeverein
aus, zu dem alle, die siebzig und mehr Jahre hinter sich haben, geladen
werden. Das Entgegenkommen der Daimlerleitung macht es möglich,
die Schwachen und weit Entfernten im Kraftwagen zu holen und heimzubringen.
Dieser Altenmittag hat sich schnell eingebürgert und ist ein Tag,
auf den sich die Alten schon lange vorher freuen.
Im Januar 1928 legte Altkirchenpfleger Warth auch
sein Amt als Kirchengemeinderat nieder, und für ihn wurde in Ludwig
Grundler ein zweiter Vertreter der Gartenstadt gewählt. Da die
Kindergartenbaracke in der Gartenstadt am zusammenbrechen war, baute
die Stadt einen mit allen modernen Einrichtungen ausgestatteten Kindergarten.
Die Erlaubnis, den zweiten, einstweilen unbenutzten Saal für ihre
Gottesdienste einzurichten, wurde der Kirchengemeinde erteilt, aber
unter der Bedingung, daß sie möglichst bald für ein
eigenes gottesdienstliches Lokal sorge. So mußte die Pfarr- und
Gemeindehausfrage einstweilen zurückgestellt und aller Nachdruck
auf einen Bau in der Gartenstadt gelegt werden. Auf den Rat von Oberbaurat
Otto wurden dann zwei Gärten von 21,42 und 8,89 a um 21 000 Mark
gekauft; aber die Bausumme hätte die Gemeinde ohne wesentliche
Erhöhung der Kirchensteuer nicht einmal verzinsen, geschweige
denn abzahlen können. Da griff der Oberkirchenrat ein, und der
Bau eines Kirchsaals mit Pfarr=, Mesner= und Schwesternwohnung darüber
wurde von ihm übernommen, die Kirchengemeinde aber hatte nur 50
000 Mark daran zuzahlen. Dazu kamen dann noch die Kosten von Türmchen
und Glocken, die ursprünglich nicht vorgesehen waren. Im Oktober
1929 wurde der Beschluß gefaßt, am 18. Oktober 1931 das
Kirchlein eingeweiht. Mitten in den Obstgärten stehend, erscheint
es wie der Hirte, der vor der Herde der Gartenstadthäuser hergeht.
Die Baugenossenschaft Luginsland hat schon im Jahr 1926 ein stattliches
Gebäude[pag226] mit großem Saal und Nebensälen und
14 Wohnungen hergestellt und damit eine eigene Bäckerei und Metzgerei
sowie eine Mosterei verbunden. Als die Kindergartenbaracke abgebrochen
war, erstand auf diesem Platz ein weiterer Bau für Konsumvereinsladen
und Milchabgabe. Und über den Wohnungen im ersten Stock schlägt
eine Uhr. Drüben im Weingarten aber wurde ein Bau errichtet mit
Bibliothekraum neben den Wohnungen, mehreren Autoställen (Garagen
sagt der Deutsche) und dem genossenschaftlichen Kohlenschuppen. Im
Jahr 1928 bekam die Gartenstadt auch die längst gewünschte
eigene Krankenschwester, die nach ihrer offiziellen Einführung
von den Frauen mit einem Festkaffee im Saal des Ferienheims begrüßt
wurde und den Gartenstädtern alsbald unentbehrlich geworden ist.
Am Pfingstsamstag 1928 aber ist Stadtpfarrer Haap
erkrankt. Eine Trauung konnte er noch halten, eine Beerdigung und der übrige
Dienst fiel dem alten Pfarrer zu. Erst im Juli konnte ein Vikar gesandt
werden. Aus einer unscheinbaren Verletzung am Bein hatte sich eine
bösartige Venenentzündung entwickelt, die ihn an den Rand
des Grabes brachte, und als die Krankheit nachließ, ging es doch
noch bis Frühjahr 1929, bis er allmählich sein Amt wieder übernehmen
konnte. Am 9. März 1929 wurde er auf einem Gemeindeabend als genesen
begrüßt. Im Sommer 1928 feierte die Freiwillige Feuerwehr
ihr fünfzigjähriges unter allgemeiner Beteiligung der Einwohnerschaft,
die ihr den langjährigen treuen in Erfüllung des Wahlspruchs "Gott
zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr" zu danken hat.
1929 folgte auf einen unerhört kalten Winter
ein unerhört fruchtbares Jahr. Aber nach dem Aufschwung der letzten
Jahre nahm die Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, bis zu einem Tag in
der Woche, wieder zu, und bald war die Million Arbeitsloser erreicht.
Am 1. Mai kam Stadtvikar Binder nach Ulm, im September wurde sein Nachfolger
Frasch abgerufen, und erst im Juli 1930 kam Stadtvikar Stahl hierher.
Durch den Tod der treuen Mesnerin erlitt die Gemeinde einen wirklichen
Verlust. Doch hat ihre Tochter Elise im Verein mit ihrer Zwillingsschwester
sich alle Mühe gegeben, der Mutter Stelle zu versehen. Im Jahr
1930 ging die Arbeitsnot weiter, und bis Ende des Jahres waren es über
drei Millionen Arbeitslose. Mit der Vollendung des "neuen Wallmer" wurde
dieser Teil der Gemeinde dem zweiten Stadtpfarramt zugesprochen. An
dem großen Gustav-Adolf-Fest in Stuttgart hat sich auch unsere
Gemeinde beteiligt. Im Ehelichen Verein junger Männer ist Sekretär
Hoffmann, für den sich die Jungen begeistert hatten, jählings
ausgetreten, und nachdem Sekretär Müller wieder in seine
Heimat zurückgekehrt war, mußte der Verein sich ohne Sekretär
behelfen. Als Vorstand wurde nach dem Rücktrift des langjährigen
treuen und verdienten Leiters Moritz Gaßmann Immanuel Warth,
gewählt, der dann gleich im folgenden Jahre die Feier des fünfzigjährigen
Jubiläums leiten durfte.
Im Jahr 1931 hat die Pumpwirtschaft, die Staat, Städte
und Industrie jahrelang getrieben hatten, an den Staatsbankrott geführt.
Nun kam eine Notverordnung um die andere, und zwar trafen diese Notverordnungen
gerade auch dahin, wo die Not schon groß genug war, indem die
kargen Beträge der Arbeitslosen und Sozialrentner gekürzt
wurden. Auch die Landwirtschaft löste nichts aus ihren Produkten,
und doch war es ein ungeheuer obstreiches Jahr. Für die Gartenstadt
brachte das Jahr 1931 die Vollendung ihres Kirchleins. Die Pfarrwohnung
wollte der Oberkirchenrat nicht ausbauen lassen; da machte Stadtpfarrer
Lechler den Vorschlag, er wolle sich pensionieren lassen und als Pfarrverweser
das Stadtpfarramt III in der Gartenstadt übernehmen, zu dem alles,
was auf dem Berg liegt, gehört. So wurde das Ganze ausgebaut und
das Kirchlein am 18. Oktober eingeweiht und Stadtpfarrer Lechler bei
einem Gemeindeabend am 24. Oktober verabschiedet als vierundzwanzigjähriger
Pfarrer der Gemeinde Untertürkheim. Das schönste Abschiedsgeschenk
wurde ihm überreicht mit der Farbenskizze, nach der der Künstler
Schmank die Untertürkheimer Bergpredigt für die Wand neben
der Kanzel malen sollte. Das Veteranenbild hatte beim Weißnen
der Kirche schon seinen Platz über der Emporkirchentreppe gefunden.
Als Geschenk der Weingärtner wurde eine riesige Kalebstraube noch
in der Nacht bis in den Chor des Kirchleins gebracht. Sie hat noch
manches erquickt.
Für die Not der Zeit wurde den Winter über
von der Inneren Mission ein von den Pfarrämtern und Vereinen unterstütztes,
wohlorganisiertes Hilfswerk eingerichtet, das dann im Dritten Reich
vom Staat mit größeren Mitteln und in größerem
Stil fortgesetzt worden ist. In diesem Jahr ist Schwester Regine, die
Leiterin der hiesigen Diakonissenstation, zu der auch Rotenberg gekommen
ist, aus ihrer unermüdlichen treuen Tätigkeit abgerufen worden.
Von 1907 an hat sie in aufopferungsvoller Arbeit der Gemeinde gedient
an Kranken und Armen. Im Januar 1932 wurde das Pfarrhaus bezogen von
Stadtpfarrer Dieterich, der von AdeIberg kam, während Stadtvikar
Stahl dort Pfarrverweser wurde und an seine Stelle Stadtvikar Wertz
trat. Stadtpfarrer Dieterich hat mit Jugendkraft und Eifer den Dienst übernommen
und in kurzer Zeit das Herz der Gemeinde gewonnen. In der Sommervakanz
zog er mit Frau und Kindern ins Ferienheim, um dasselbe zu leiten.
Am 18. Juni 1932 wurde die Konzession der Apotheke dem Stiefsohn des
seitherigen Inhabers Zluhan, dem Dr. Eduard Niethammer, verliehen.
Während der Herbst gut war und die Kornernte im letzten Augenblick
noch vor dem Ersaufen gerettet wurde, nahm die Weltkrise und die dadurch
hervorgerufene allgemeine Not unaufhaltsam zu. 5-7 Millionen Arbeitslose
sollten verhalten werden. Nirgends ging ein Geschäft und natürlich
immer weniger, je mehr die Gehälter und Löhne verkürzt
wurden. Der einzige Lichtblick in dieser trüben Zeit war die
Einrichtung von freiwilligen Arbeitsdienstlagern, die, wenn sie recht
geleitet waren, den günstigsten Einfluß auf die jungen Leute
ausübten. Im Dritten Reich ist dann der Arbeitsdienst pflichtmäßig
eingeführt worden, und Burschen und Mädchen stehen unter
seinem namentlich auch sozial wohltätigen Einfluß. Der Kirchenchor
feierte sein vierzigjähriges Jubiläum. Neben ihm haben sich
zwei Singkreise gebildet. Der eine, der auch auswärtige Mitglieder
hat, ließ sich zuweilen in der Gartenstadtkirche hören.
Hier hat aber Stadtpfarrer Botsch, der Dezember 1933 an die Stelle
des alten Pfarrverwesers trat, sich einen eigenen Kirchenchor in kurzer
Zeit herangeschult. Der andere Singkreis besteht aus Mitgliedern der
Jugendvereine und tritt regelmäßig bei der Adventsjugendfeier
hervor.
Mit dem Jahr 1933 kam die nationalsozialistische Revolution. Reichspräsident
Hindenburg übergab dem Reichskanzler Hitler die Macht; dieser richtete das
Dritte Reich auf, und damit trat eine über alles sich erstreckende Änderung
der Verhältnisse ein. Das Dritte ist ein Einheits-staat, regiert von Statthaltern,
die vom Führer ernannt sind und geleitet werden. Die evangelische Kirche
hat sich zu einer einheitlichen evangelischen Reichskirche zusammengeschlossen.
Dabei ist alles noch im Werden, in der Entwicklung, auch wo Großes erreicht
ist, wie in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, ist der Kampf nicht beendet.
Mitten im Gang der Entwicklung kann Geschichte, Bericht über Geschehenes
nicht mehr geschrieben werden.
Es sei mir zum Schluß eine Bemerkung gestattet. Ich bin mir bewußt
der Mangelhaftigkeit dieser Geschichte, die am Mangel eingehenderer Studien vielfach
leider und überhaupt mehr eine Chronik als eine Geschichte ist. Namentlich
aber ist die ziemlich einseitig kirchlich orientiert. Aber ich habe es eben nicht
anders zustande gebracht und den mir gewordenen Auftrag erledigt, so gut ich
konnte. Ich hoffe aber doch, meiner lieben Gemeinde damit noch einmal einen Dienst
getan zu haben.